Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.10.2011, Az. 1 StR 233/11

1. Strafsenat | REWIS RS 2011, 2229

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Gegenstand

Aussetzung mit Todesfolge: Tatbestandsvariante des Im-Stich-Lassens als Unterlassungsdelikt


Leitsatz

Aussetzung durch im Stich lassen ist stets ein Unterlassungsdelikt; eine Strafrahmenmilderung gemäß § 13 Abs. 2 StGB ist nicht möglich, auch nicht, wenn der Täter durch die Tat den Tod des Opfers verursacht (§ 221 Abs. 3 StGB) .

Tenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 20. Dezember 2010 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

1

[X.] hat festgestellt:

2

Der Angeklagte lebte mit einer sieben Jahre jüngeren Frau zusammen, für die er "Verantwortung übernommen hatte". So unterstützte er etwa ihr Bemühen, einen Schulabschluss nachzuholen. Als sie während eines Gaststättenbesuchs über Schwindelanfälle klagte, ging er mit ihr nach [X.]. Dort gab es Streit, weil er einen ihrer Slips bei einem Mitbewohner gefunden hatte. Sie wollte den Streit beenden und ging ins Schlafzimmer. Aus nicht aufklärbaren Gründen kippte sie gegen 2.35 Uhr in der Nacht über ein 84 cm hohes Balkongeländer. Sie hing außen mit den Beinen zur gut 12 m tiefer liegenden Straße, konnte sich aber zunächst mit den Händen von außen festhalten. Sie schrie mehrfach laut um Hilfe, wie in den umliegenden Häusern gehört wurde, z.B. mit den Worten "[X.], warum hilfst du [X.] nicht?" Wie ebenfalls gehört wurde, wurde auf diese Rufe hin gelacht. Der Angeklagte, der die Situation erkannt hatte, griff jedenfalls nicht ein, obwohl ihm dies ohne Weiteres möglich gewesen wäre, und verließ die Wohnung. Etwa zu diesem Zeitpunkt konnte sie sich nicht länger festhalten, stürzte ab und war sofort tot.

3

[X.] geht davon aus, dass der Angeklagte erkannte, dass sie in Todesgefahr war, wobei er jedoch - was nicht näher begründet ist und sich nicht ohne Weiteres aufdrängt - darauf vertraute, dass am Ende nichts passieren würde, weshalb er hinsichtlich ihres Todes nur fahrlässig gehandelt habe. Auf dieser Grundlage hat sie ihn gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB (im Stich lassen) i.V.m. § 221 Abs. 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

4

Die auf die Sachrüge gestützte Revision, die in Erwiderung auf den Antrag des [X.] (§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO) näher ausgeführt wurde, bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).

5

1. Das im Wesentlichen gegen die Beweiswürdigung gerichtete Vorbringen, das dahin zusammengefasst ist, der Angeklagte wäre unter Verletzung des [X.] verurteilt worden, ist unbehelflich. Anhaltspunkte für Zweifel der Strafkammer sind nicht ersichtlich; darauf, dass sie nach Auffassung der Revision Zweifel hätte haben müssen, bzw. auf die Zweifel der Revision kommt es nicht an (vgl. zusammenfassend Schoreit in KK, 6. Aufl., § 261 Rn. 59 mwN).

6

2. Auch im Übrigen hält das Urteil rechtlicher Überprüfung im Ergebnis stand. Der näheren Erörterung bedarf dabei nur Folgendes:

7

[X.] ist letztlich davon ausgegangen, dass der Angeklagte "zumindest unmittelbar bevor sie … abstürzte" in der Wohnung war, nachdem sie (naheliegend) nicht auf die Sekunde genau klären konnte, ob der Angeklagte die Wohnung kurz vor dem Absturz, zum Zeitpunkt des Absturzes oder kurz danach verließ. Rechtliche Erwägungen dazu, ob hier der Angeklagte seine Freundin dadurch i.S.d. § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB "im Stich ließ", dass er ohne Ortswechsel passiv blieb, oder dadurch, dass er die Wohnung verließ - beide Möglichkeiten gehen hier ineinander über -, also ob er sich durch [X.] oder durch Unterlassen strafbar gemacht hat, sind nicht angestellt.

8

a) Der Schuldspruch bleibt hiervon allerdings von vorneherein unberührt.

9

b) Der Strafausspruch könnte jedoch dann keinen Bestand haben, wenn trotz einer auch durch aktives [X.] möglichen Strafbarkeit hier eine Strafbarkeit durch Unterlassen und dementsprechend nach tatrichterlichem Ermessen eine (hier nicht geprüfte) Milderung des Strafrahmens gemäß § 13 Abs. 2 StGB in Frage käme (vgl. [X.], Beschluss vom 17. August 1999 - 1 StR 390/99, [X.], 607).

Der [X.] hat dies jedoch verneint.

(1) Seit der Neufassung von § 221 StGB durch Art. 1 Nr. 37 des [X.] vom 26. Januar 1998 ([X.]) hat die Rechtsprechung des [X.] (vgl. die Übersicht bei [X.], Die Aussetzung nach § 221 StGB, S. 504) die Rechtsnatur von § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB im Sinne einer Abgrenzung zwischen Begehungs- und [X.] noch nicht behandelt. Die Fachliteratur vertritt unterschiedliche Standpunkte. Etliche Autoren sprechen sich für ein sowohl durch [X.] als auch durch Unterlassen begehbares Delikt aus (z.B. Eser in [X.]/[X.], StGB, 28. Aufl., § 221 Rn. 10; [X.], StGB, 58. Aufl., § 221 Rn. 12; [X.]/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 221 Rn. 4; [X.] in [X.], 11. Aufl., § 221 Rn. 22, 28, 29 mit ausdrücklichem Hinweis auf die Anwendbarkeit von § 13 Abs. 2, StGB aaO, Rn. 43; zusammenfassend [X.], aaO, [X.] mwN in [X.]. 194; [X.], Systematik des [X.] mwN in [X.]. 1039). Andere halten § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB für ein (reines) [X.] (z.B. Horn/[X.] in [X.], § 221 Rn. 6; Hardtung in [X.], § 221 Rn. 2; [X.] in [X.], 3. Aufl., § 221 Rn. 19; zusammenfassend [X.], aaO, S. 112 f. mwN in [X.]. 183; [X.], aaO, mwN in [X.]. 1045 ff.). § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB wird auch als der (normierte) unechte Unterlassungstatbestand zu § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB angesehen (vgl. z.B. [X.], StGB, [X.] § 31 Rn. 18; zusammenfassend [X.], aaO, [X.] f. mwN; [X.], aaO, Rn. 250 weist ausdrücklich auf die Anwendbarkeit von § 13 Abs. 2 StGB hin). Teilweise wird noch weiter differenziert (z.B. [X.], [X.] 111, 30, 58 f.; [X.]/[X.], StGB, [X.]., S. 48).

(2) Der [X.] hält § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB für ein [X.]. Das Verlassen des Opfers ist - anders als nach der früheren Gesetzeslage (vgl. hierzu [X.], Urteil vom 30. September 1991 - 1 StR 339/91, [X.]St 38, 78 ff.) - nur noch ein faktischer Anwendungsfall, aber kein gesetzlicher Unterfall des [X.]. Dass der Täter die gebotene Handlung deshalb nicht vornimmt, weil er den Ort, an dem er handeln müsste, verlässt, ändert nichts an dem grundsätzlichen Rechtscharakter der Tat (vgl. [X.], aaO). Letztlich ist bei der Bewertung von Verhaltensweisen unter dem Blickwinkel, ob strafbares [X.] oder strafbares Unterlassen vorliegt, darauf abzustellen, worin der "Schwerpunkt der [X.]" liegt (st. Rspr., vgl. [X.] (GrSSt), Beschluss vom 17. Februar 1954 - [X.], [X.]St 6, 46, 59; [X.], Urteil vom 1. Februar 2005 - 1 [X.], [X.] NStZ 2005, 446, 447; [X.], Urteil vom 12. Juli 2005 - 1 StR 65/05, [X.], 174, 175; [X.]., auch für die anderen Auffassungen, bei [X.], aaO, S. 156 [X.]. 379). Dieser liegt darin, dass der Täter die gebotene Hilfeleistung unterlässt, ohne dass es darauf ankommt, ob er sich (zusätzlich) entfernt.

c) Ob § 13 StGB anwendbar und damit auch (fakultativ) eine Strafrahmenmilderung gemäß § 13 Abs. 2 StGB möglich ist, richtet sich danach, ob ein "echtes" oder "unechtes" [X.] vorliegt. Für "echte" [X.]e gilt § 13 StGB nicht (vgl. zusammenfassend [X.], StGB, 58. Aufl., § 13 Rn. 3 mwN). "Echte" [X.]e müssen keinen Taterfolg aufweisen (vgl. [X.], Urteil vom 16. Mai 1960 - 2 StR 65/60, [X.]St 14, 280, 281; BayObLG, Beschluss vom 22. Januar 1990 - RReg 1 St/5/90, NJW 1990, 1861; [X.], aaO, vor § 13 Rn. 16). So verhält es sich letztlich hier. Das pflichtwidrige Garantenverhalten führt im Rahmen von § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht zu einer Verantwortlichkeit für den daraus resultierenden [X.], sondern zur strafrechtlichen Haftung für die nicht abgewendete konkrete Gefahr ([X.], aaO, 58 f.). Ist aber aus diesen Gründen § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB echtes [X.], sodass § 13 StGB nicht anwendbar ist (so auch die überwiegende Meinung in der Fachliteratur, vgl. zusammenfassend [X.], aaO, [X.] mwN in [X.]. 1459, auch für gegenteilige Auffassungen), kann für den hierauf aufbauenden Qualifikationstatbestand des § 221 Abs. 3 StGB nichts anderes gelten.

Der [X.] hat dabei erwogen, dass bei Vorsatz hinsichtlich der Todesfolge Totschlag (§ 212 StGB) vorläge und § 221 StGB dahinter zurücktreten würde ([X.], aaO, § 221, Rn. 28; zu § 221 StGB aF ebenso schon [X.], Urteil vom 27. März 1953 - 1 [X.], [X.]St 4, 114, 116). Bei einer Strafbarkeit gemäß § 212 StGB ist § 13 Abs. 2 StGB jedoch grundsätzlich anwendbar, so dass gegebenenfalls die Mindeststrafe bei Fahrlässigkeit hinsichtlich der Todesfolge (drei Jahre Freiheitsstrafe gemäß § 221 StGB) höher sein könnte als bei Vorsatz (zwei Jahre Freiheitsstrafe gemäß § 212 Abs. 1 StGB i.V.m. § 13 Abs. 2 StGB und § 49 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Ohne dass hier über einen solchen Fall zu entscheiden wäre, würde nach Auffassung des [X.]s zur Vermeidung des aufgezeigten [X.] (vgl. hierzu auch [X.], aaO, Rn. 250) der Grundsatz, dass die Mindeststrafe eines auf Konkurrenzebene hinter einem anderen Delikt zurücktretenden Delikts eine Sperrwirkung entfaltet (st. Rspr., vgl. nur [X.], Urteil vom 24. November 2005 - 4 [X.], [X.], 288, 290 mwN; vgl. auch zusammenfassend [X.], aaO, vor § 52 Rn. 45 mwN) hier entsprechend gelten.

[X.]                                         Wahl                                               Elf

                      Jäger                                            [X.]

Meta

1 StR 233/11

19.10.2011

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Memmingen, 20. Dezember 2010, Az: 1 Ks 20 Js 5527/05, Urteil

§ 13 Abs 2 StGB, § 49 Abs 1 StGB, § 221 Abs 1 Nr 2 StGB, § 221 Abs 3 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.10.2011, Az. 1 StR 233/11 (REWIS RS 2011, 2229)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 2229

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Referenzen
Wird zitiert von

3 StR 277/22

1 StR 58/19

1 StR 233/11

3 StR 488/20

2 StR 491/20

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