Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 25.07.2017, Az. 2 BvR 1405/17

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2017, 7447

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Erlass einer einstweiligen Anordnung: teilweise Parallelentscheidung


Tenor

Die Staatsanwaltschaft [X.] wird angewiesen, die im Rahmen der Durchsuchung der Geschäftsräume der [X.] in der [X.] 11 in [X.] am 15. März 2017 sichergestellten Unterlagen (lfd. Nummern 1 bis 185 des [X.] vom 15. März 2017) sowie die angefertigte Datensicherung (Festplatte gemäß lfd. Nummer 186 des [X.] vom 15. März 2017) - diese nach Vollziehung der durch Beschluss des Landgerichts [X.] I vom 7. Juli 2017 (Aktenzeichen 6 [X.]) angeordneten Herausgabe der unter dem Dateipfad "interwoven" von einem in [X.] befindlichen Server heruntergeladenen Daten und Vernichtung davon gefertigter Kopien - bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, bei dem Amtsgericht [X.] versiegelt zu hinterlegen.

Eine Auswertung oder sonstige Verwertung der sichergestellten Unterlagen und der Datensicherung hat in diesem Zeitraum zu unterbleiben.

Gründe

1

Die Beschwerdeführerin ist ein weltweit am Markt vertretener [X.] Automobilhersteller und Muttergesellschaft verschiedener weiterer Automobilhersteller, unter anderem der [X.]. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sie sich gegen die auf § 103 StPO gestützte Anordnung der Durchsuchung der [X.] Kanzleiräume der [X.], die sie im Zuge des sogenannten "[X.]" mandatiert hatte.

2

1. Anlässlich eines in [X.] geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen Abgasmanipulationen an Dieselfahrzeugen beauftragte die Beschwerdeführerin im September 2015 die international tätige [X.] mit internen Ermittlungen, rechtlicher Beratung und der Vertretung gegenüber den [X.] Strafverfolgungsbehörden. Mit dem Mandat waren auch Rechtsanwälte aus dem [X.] Kanzleibüro befasst. Zum Zwecke der Sachaufklärung sichteten die Rechtsanwälte der Kanzlei [X.] konzernweit eine Vielzahl von Dokumenten und führten über 700 Befragungen von Mitarbeitern des [X.] durch. Der Aufsichtsrat der ebenfalls von den Ermittlungen betroffenen [X.] ermächtigte seinen stellvertretenden Vorsitzenden, über die Beschwerdeführerin einen Zugriff auf die die [X.] betreffenden Ergebnisse der "[X.]" der Kanzlei [X.] zu veranlassen ([X.] vom 7. Oktober 2015). Laut Jahresabschlussbericht der [X.] für das Geschäftsjahr 2015 erhielten Aufsichtsrat und Vorstand zum Zeitpunkt der Jahresabschlussaufstellung einen mündlichen Zwischenbericht über den Stand der Untersuchungen.

3

Im Januar 2017 einigten sich die Beschwerdeführerin und das [X.] im Rahmen eines sogenannten Plea Agreement auf die Zahlung eines [X.] in Höhe von 2,8 Milliarden USD. Die Beschwerdeführerin bekannte sich in einem der Verständigung beigefügten statement of facts schuldig, durch eine Tochterfirma in [X.] Dieselfahrzeuge mit unzulässigen Abgaskontrollvorrichtungen vertrieben zu haben. Betroffen waren Fahrzeuge mit 2,0 Liter-Dieselmotoren der Beschwerdeführerin und mit 3,0 Liter-Dieselmotoren, die die [X.] entwickelt und hergestellt hatte.

4

Wegen der Vorgänge im Zusammenhang mit den 3,0 Liter-Dieselmotoren der [X.] führt die Staatsanwaltschaft [X.] ein Ermittlungsverfahren wegen Betruges und strafbarer Werbung, das sich bislang gegen Unbekannt richtet. Auf ihren Antrag ordnete das [X.] mit Beschluss vom 6. März 2017 auf der Grundlage von § 103 StPO die Durchsuchung der [X.] Geschäftsräume der [X.] an. Die Durchsuchung sollte der Auffindung von Dokumenten dienen, die von der Kanzlei im Zuge ihrer internen Ermittlungen über die Vorgänge um den 3,0 Liter-Dieselmotor der [X.] zusammengetragen oder erstellt worden waren.

5

Die Durchsuchungsanordnung wurde am 15. März 2017 vollzogen. Insgesamt wurden 185 Aktenordner und Hefter mit Unterlagen aus den Büros der sachbearbeitenden Rechtsanwälte und einem eigens für das Mandat eingerichteten [X.] sichergestellt. Die Ermittler sicherten außerdem einen umfangreichen Bestand an elektronischen Daten, von denen sie einen Teil zunächst von einem in [X.] befindlichen Server herunterluden.

6

Gegen die Durchsuchungsanordnung vom 6. März 2017 legte die Beschwerdeführerin am 24. März 2017 Beschwerde ein, der das [X.] mit Entscheidung vom 29. März 2017 nicht [X.]. Das [X.] verwarf die Beschwerde der Beschwerdeführerin - sowie die ebenfalls gegen die Durchsuchungsanordnung gerichtete Beschwerde der [X.] - mit Beschluss vom 8. Mai 2017 als unbegründet. Die dagegen gerichtete Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin vom 7. Juni 2017 verwarf das [X.] mit Beschluss vom 14. Juni 2017 als unzulässig.

7

Der Sicherstellung widersprach die Beschwerdeführerin und beantragte am 24. März 2017, die sichergestellten Unterlagen und Daten sofort an die Kanzlei [X.] herauszugeben. Das [X.] wertete dies als Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO und lehnte eine Herausgabe mit Entscheidung vom 29. März 2017 unter Verweis auf seinen Beschluss vom 21. März 2017 ab, mit dem es die Sicherstellung auf den Antrag der [X.] nach § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO bereits bestätigt hatte. Dagegen legte die Beschwerdeführerin am 29. Mai 2017 Beschwerde ein, auf die das [X.] mit Beschluss vom 7. Juli 2017 anordnete, dass die unter dem Dateipfad "interwoven" von einem in [X.] befindlichen Server heruntergeladenen Daten an die Kanzlei [X.] herauszugeben und von diesen Daten gefertigte Kopien zu vernichten seien. Im Übrigen verwarf es die Beschwerde als unbegründet.

8

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Durchsuchungsanordnung des [X.] vom 6. März 2017 und den Beschluss des [X.] vom 8. Mai 2017, durch die sie sich in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt sieht.

9

Im Wesentlichen beruft sie sich darauf, dass Amtsgericht und Landgericht bei der Auslegung von § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO den grundrechtlichen Schutz der Vertrauensbeziehung zwischen Rechtsanwalt und Mandant nicht hinreichend berücksichtigt hätten. Für den Beschlagnahmeschutz aus § 97 StPO sei nicht die formale Stellung des Mandanten als Beschuldigter im konkreten Ermittlungsverfahren entscheidend, sondern allein das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant, so dass sich die Anordnung der Durchsuchung wegen eines [X.] als unverhältnismäßig erweise.

Die Beschwerdeführerin beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 32 [X.] die Aussetzung der Vollziehung des Durchsuchungsbeschlusses des [X.] vom 6. März 2017 sowie die Aufrechterhaltung der Versiegelung der am [X.] Standort der [X.] sichergestellten Unterlagen und Daten bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde anzuordnen.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor.

1. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. [X.] 7, 367 <371>; 103, 41 <42>; 121, 1 <15>; 134, 138 <140 Rn. 6 m.w.N.>; stRspr).

Bei offenem Ausgang des [X.] sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. [X.] 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 121, 1 <17>; 125, 385 <393>; 126, 158 <168>; 129, 284 <298>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr). Die Folgenabwägung gemäß § 32 [X.] stützt sich mithin auf eine bloße Einschätzung der Entscheidungswirkungen (vgl. nur [X.] 94, 166 <217>).

2. Nach diesen Maßgaben war die einstweilige Anordnung zu erlassen.

a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Sie wirft insbesondere die Frage auf, in welchem Umfang das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlichen Schutz genießt und inwieweit in dieses Verhältnis durch staatliche Ermittlungsmaßnahmen wie beispielsweise eine Durchsuchung eingegriffen werden darf, wenn der Rechtsanwalt im Auftrag seines Mandanten mit einer internen Untersuchung befasst ist, auf deren Ergebnisse die Ermittlungsbehörden zugreifen möchten, weil sie sich davon weitergehende Erkenntnisse für ihre Ermittlungen in einem Verfahren versprechen, in welchem der Mandant zwar nicht formell Beschuldigter ist, das aber in unmittelbarem Zusammenhang mit den im Rahmen des Mandatsverhältnisses durchgeführten internen Ermittlungen steht. Dies kann im Eilverfahren nicht abschließend geklärt werden.

b) Im Rahmen der somit erforderlichen Folgenabwägung überwiegen die Gründe für den Erlass der einstweiligen Anordnung.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnte die Staatsanwaltschaft in der Zwischenzeit eine Auswertung des sichergestellten Materials vornehmen, ohne hierzu berechtigt zu sein. Dieser Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf die im Zuge der internen Ermittlungen erstellten und gesammelten Unterlagen und Daten könnte zu einer - möglicherweise irreparablen - Beeinträchtigung des rechtlich geschützten Vertrauensverhältnisses (vgl. [X.] 113, 29 <49> m.w.N.) zwischen der Beschwerdeführerin und der Kanzlei [X.] führen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Staatsanwaltschaft infolge einer Auswertung Kenntnis von Informationen erlangen würde, die allesamt aufgrund des von der Beschwerdeführerin erteilten Mandats in die Sphäre der [X.] gelangt sind und über deren Preisgabe die Beschwerdeführerin als Auftraggeberin bisher selbst entscheiden konnte. Darin läge einerseits ein schwerlich wiedergutzumachender Eingriff in die Grundrechte der Beschwerdeführerin. Andererseits könnten durch die Auswertung persönliche Daten unbeteiligter Dritter, insbesondere von Mitarbeitern der [X.] oder ihrer Tochtergesellschaften wie etwa der [X.], die ihre Daten in der Sphäre der Kanzlei [X.] sicher glaubten, zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangen.

Erginge dagegen die einstweilige Anordnung, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später jedoch als unbegründet, würde damit lediglich eine Verzögerung der staatsanwaltlichen Ermittlungen für eine begrenzte Zeitspanne einhergehen. Ein Beweisverlust hinsichtlich der Informationen aus dem sichergestellten Material wäre nicht zu befürchten, wenn auch den Ermittlungsbehörden vorerst die Möglichkeit versperrt bliebe, mit Hilfe dieser Informationen weitere Ermittlungshandlungen vorzunehmen, die der Beweiserhebung oder der [X.] dienen. Bei Abwägung der jeweiligen Folgen wiegen die möglichen Nachteile für die Beschwerdeführerin schwerer als die durch den Erlass der einstweiligen Anordnung eintretende vorübergehende Beschränkung der staatlichen Strafverfolgung.

Meta

2 BvR 1405/17

25.07.2017

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend LG München I, 8. Mai 2017, Az: 6 Qs 5/17, Beschluss

Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 94 StPO, § 97 Abs 1 Nr 3 StPO, § 98 StPO, § 103 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 25.07.2017, Az. 2 BvR 1405/17 (REWIS RS 2017, 7447)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 7447


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17, 27.06.2018.


Az. 2 BvR 1405/17

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 1405/17, 09.01.2018.

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 1405/17, 25.07.2017.


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