Bundesgerichtshof, Urteil vom 10.10.2012, Az. 5 StR 316/12

5. Strafsenat | REWIS RS 2012, 2441

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Gegenstand

Aussage-gegen-Aussage-Konstellation im Strafverfahren wegen Sexualdelikten: Anforderungen an die Beweiswürdigung bei Abrücken des einzigen Belastungszeugen von früheren Aussagen


Tenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 6. Februar 2012 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist, sowie im Rechtsfolgenausspruch.

Auf die Revision des Angeklagten wird das genannte Urteil mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er verurteilt worden ist.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

– Von Rechts wegen –

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung, jeweils in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern und Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und der Nebenklägerin im Rahmen einer Adhäsionsentscheidung einen Schmerzensgeldbetrag zugesprochen. Vom Vorwurf, zwei weitere sexuelle Übergriffe begangen zu haben, hat es ihn freigesprochen. Die vom [X.] vertretene Revision der Staatsanwaltschaft wendet sich mit der Sachrüge gegen die den [X.] zugrunde liegende Beweiswürdigung sowie gegen die [X.] der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung. Die Revision des Angeklagten erhebt eine Verfahrensrüge und darüber hinaus die allgemeine Sachrüge. Beide Rechtsmittel haben Erfolg.

2

1. Das [X.] hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen.

3

a) Der wegen eines [X.] vorbestrafte Angeklagte bot der Mutter der am 26. Januar 2005 geborenen Nebenklägerin      Sc.   an einem nicht näher feststellbaren Tag zwischen Juni 2009 und [X.] 2010 an, auf die Nebenklägerin, die in seiner Wohnung übernachten sollte, aufzupassen. Als die Nebenklägerin sich in seiner Obhut befand, zog er die Hose ihres Schlafanzugs herunter, legte sie mit dem Bauch auf einen Tisch und cremte ihren Anus ein. Gegen den Willen des sich wehrenden Kindes drang der Angeklagte mehrfach mit seinem Penis in dessen After ein.

4

Die Nebenklägerin, die noch mehrere Tage unter Schmerzen litt, erzählte ihrer Mutter am nächsten Morgen, was vorgefallen war. Diese untersuchte die Nebenklägerin, konnte aber keine Verletzungen an der [X.] und dem After ihres Kindes entdecken. Sie schenkte der Schilderung ihrer Tochter zwar keinen Glauben; gleichwohl brach sie den Kontakt zum Angeklagten ab. Eine Anzeige bei der Polizei erstattete sie nicht. Zu Ermittlungen kam es erst, als die Nebenklägerin sich am 12. März 2011 gegenüber einer Freundin ihrer Mutter weinend offenbarte, die anschließend die Polizei verständigte.

5

Die [X.] stützt die Verurteilung des die Tat bestreitenden Angeklagten im Wesentlichen auf die von ihr als glaubwürdig bewertete Aussage der Nebenklägerin. Ihr sei nicht zuzutrauen, „eine derartige Aussagekonstanz mit Realkennzeichen durch alle Vernehmungen zu halten, wenn sie nicht erlebnisbasiert“ sei ([X.]). Soweit die Nebenklägerin der Freundin ihrer Mutter am 12. März 2011 nur von einem vaginalen Geschlechtsverkehr erzählt hatte, stelle dies die Erlebnisbasiertheit ihrer Aussage nicht in Frage, weil – entsprechend den Ausführungen der sachverständigen Zeugin [X.]     – zu berücksichtigen sei, „dass die körperliche Wahrnehmung einer Fünfjährigen hinsichtlich After und [X.] noch wenig ausgeprägt sei und die Abweichung daher aus Sicht der Geschädigten nicht das Kerngeschehen“ betreffe ([X.]). Des Weiteren sei der Umstand, dass die Nebenklägerin in ihrer polizeilichen Vernehmung den Tisch neben der Couch, in der Hauptverhandlung hingegen den Küchentisch als genaue Tatörtlichkeit angegeben habe, als nicht wesentliche Abweichung anzusehen. Diese Abweichung könne als vergleichsweise nebensächliche Einzelheit einerseits dem Alter der Nebenklägerin sowie dem relativ lange zurückliegenden Tatzeitraum, andererseits dem ungenauen Frageverhalten des Vernehmungsbeamten geschuldet sein.

6

b) Die zugelassene Anklage warf dem Angeklagten darüber hinaus vor, die Nebenklägerin in seiner Wohnung im gleichen Zeitraum ein weiteres Mal anal auf dem Tisch und einmal vaginal auf der Couch mit seinem Geschlechtsteil penetriert zu haben.

7

Die [X.] hat den Angeklagten insoweit aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil sie diese Taten „nicht zweifelsfrei feststellen“ konnte. In einer – gesondert – vorgenommenen Beweiswürdigung führt sie aus: „Bei der Überprüfung der Entstehung der Aussage sowie nach den Glaubwürdigkeitskriterien und Realkennzeichen“ sei sie zwar überzeugt, dass es weitere Vorfälle gegeben habe ([X.]); die Analyse der [X.] der Nebenklägerin ergebe aber trotz anzunehmender umfassender Aussagetüchtigkeit und Beruhen ihrer Angaben auf einem wahren Erlebnishintergrund keine hinreichende [X.] ([X.]). Zu Gunsten des Angeklagten könne die [X.] daher nur das zugrunde legen, was die Nebenklägerin konstant ausgesagt habe und darüber hinaus mit den übrigen Zeugenaussagen in Übereinstimmung zu bringen sei.

8

Die Aussage der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung, wonach der [X.] und der Geschlechtsverkehr auf dem Tisch stattgefunden haben, weiche zum einen erheblich von ihren Angaben im Ermittlungsverfahren ab. Darüber hinaus habe die Nebenklägerin erstmals in der Hauptverhandlung angegeben, dass ein [X.]lverkehr auch auf der Couch in der Wohnung ihrer Mutter vorgefallen sei, als diese einkaufen gewesen sei. Diese Aussage der Nebenklägerin sei mit ihren Angaben im Ermittlungsverfahren nicht in Einklang zu bringen. Darüber hinaus habe ihre Mutter in Abrede gestellt, die Nebenklägerin in ihrer Wohnung jemals mit dem Angeklagten allein gelassen zu haben; zudem habe diese nur einmal beim Angeklagten in dessen Wohnung übernachtet.

9

c) Das [X.] hat des Weiteren zwei weitere Anklagevorwürfe, wonach der Angeklagte im gleichen Zeitraum in seiner Wohnung jeweils den Oralverkehr an der Nebenklägerin auf einem Tisch vollzogen habe, auf Antrag der Staatsanwaltschaft gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.

2. Die Beweiswürdigung des [X.]s hält insgesamt rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Die gegen die Freisprüche gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Das Revisionsgericht muss es zwar grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts; die revisionsrechtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob diesem Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt ([X.], Urteile vom 2. Dezember 2005 – 5 [X.], [X.], 925, 928, insoweit in [X.]St 50, 299 nicht abgedruckt, und vom 18. September 2008 – 5 [X.], [X.], 401). Solche Rechtsfehler liegen hier vor.

In den Freispruchsfällen ist bereits ein unauflösbarer Widerspruch darin zu sehen, dass die [X.] einerseits überzeugt ist, dass die Aussage der Nebenklägerin zu weiteren sexuellen Übergriffen des Angeklagten auf einem wahren Erlebnishintergrund basiert und es deshalb solche Übergriffe gegeben hat. Andererseits spricht sie den Angaben der Nebenklägerin mit Blick auf deren widersprüchliche Schilderungen und daraus abgeleitete Defizite der Aussagekonstanz die Glaubhaftigkeit ab und zieht zudem nicht abschließend bewertete Zeugenaussagen heran, dass es zu weiteren Vorfällen – entgegen der Aussage der Nebenklägerin – keine Gelegenheit gegeben habe. Diese Wertungen sind miteinander nicht in Einklang zu bringen.

Darüber hinaus ermöglichen die Darlegungen des [X.]s nicht die revisionsrechtliche Überprüfung, ob es die festgestellten Abweichungen in den Angaben der Nebenklägerin zutreffend bewertet hat. Es fehlt insoweit an einer hinreichenden Darstellung und Analyse der Aussageentstehung und -entwicklung. Ebenso wenig ist dargelegt, woraus sich die Erlebnisbezogenheit weiterer sexueller Übergriffe aus den Schilderungen der Nebenklägerin ergibt.

Hinsichtlich der [X.] der Sicherungsverwahrung verweist der Senat auf die Ausführungen des [X.]s. Für den Fall erneuter Verurteilung des Angeklagten in dem bisherigen [X.] darf der von der Staatsanwaltschaft nicht angefochtene (Einzel-) Strafausspruch nicht erhöht werden.

b) Die Revision des Angeklagten dringt ebenfalls mit der Sachrüge durch, weil sich die Beweiswürdigung auch zu seinen Lasten als durchgreifend rechtsfehlerhaft erweist. Auf die Verfahrensrüge kommt es daher nicht mehr an.

In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht, muss sich das Tatgericht bewusst sein, dass die Aussage des einzigen Belastungszeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen ist, zumal der Angeklagte in solchen Fällen wenig Verteidigungsmöglichkeiten besitzt. Nach der Rechtsprechung des [X.] müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände in seine Überlegungen einbezogen hat. Dies gilt insbesondere, wenn der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält oder der anfänglichen Schilderung weiterer Taten nicht gefolgt wird (vgl. [X.], Urteil vom 29. Juli 1998 – 1 [X.], [X.]St 44, 153, 158 f. mwN). Dann muss das Tatgericht jedenfalls regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben. Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des [X.]s nicht gerecht.

Die [X.] setzt sich im Rahmen der besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung nicht damit auseinander, welche Auswirkungen die bei der Nebenklägerin zu den Freispruchsfällen festgestellten Aussagedefizite auf den [X.] haben. Vielmehr steht die Beweiswürdigung zu dem als erwiesen angesehenen Fall und zu den als nicht erwiesen angesehenen Fällen nahezu beziehungslos nebeneinander (vgl. [X.], Urteil vom 12. August 2010 – 2 [X.], und Beschluss vom 4. Mai 2011 – 5 [X.]). Hinzu kommt, dass der erstmals in der Hauptverhandlung von der Nebenklägerin geschilderte sexuelle Übergriff des Angeklagten in der Wohnung der Mutter des [X.] auch im [X.] in die Glaubwürdigkeitsprüfung hätte einbezogen werden müssen. Ebenso hätte es der Erörterung bedurft, ob die gemäß § 154 Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung eingestellten Fälle des [X.] an der Nebenklägerin erweislich waren oder ob auch insoweit Glaubwürdigkeitsdefizite vorgelegen haben, die im Rahmen einer kritischen Gesamtwürdigung die Aussage der Nebenklägerin in Frage stellen könnten.

3. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens vor der erneuten Hauptverhandlung wird nicht fernliegen. Die Aufhebung des Schuldspruchs entzieht der Adhäsionsentscheidung die Grundlage.

[X.]                             Raum                             [X.]

                    König                            [X.]

Meta

5 StR 316/12

10.10.2012

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Berlin, 6. Februar 2012, Az: (507) 284 Js 1007/11 KLs (52/11)

§ 261 StPO, § 176 StGB, § 177 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 10.10.2012, Az. 5 StR 316/12 (REWIS RS 2012, 2441)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 2441

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

2 B 76/16

5 StR 544/12

2 B 14/17

5 StR 599/15

5 StR 599/15

5 StR 316/12

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