Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 08.12.2005, Az. 1 StR 482/05

1. Strafsenat | REWIS RS 2005, 377

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[X.] vom 8. Dezember 2005 in der Strafsa[X.]he gegen wegen na[X.]hträgli[X.]her Anordnung der Si[X.]herungsverwahrung - 2 - Der 1. Strafsenat des [X.] hat am 8. Dezember 2005 bes[X.]hlos-sen: Die Revision des Verurteilten gegen das Urteil des [X.] vom 6. Mai 2005 wird verworfen. Der Bes[X.]hwerdeführer hat die Kosten des Re[X.]htsmittels zu tra-gen. Gründe: Das [X.] hat die na[X.]hträgli[X.]he Unterbringung des Verurteilten in der Si[X.]herungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 2 StGB angeordnet. Hiergegen ri[X.]htet si[X.]h die Revision des Verurteilten, mit der er die Verletzung sa[X.]hli[X.]hen Re[X.]hts beanstandet. Das Re[X.]htsmittel bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO). [X.] 1. Der Verurteilte wurde am 13. Dezember 1996 vom [X.] Mün-[X.]hen I wegen versu[X.]hten Tots[X.]hlags in Tatmehrheit mit Körperverletzung und zwei jeweils selbstständigen Fällen der gefährli[X.]hen Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von a[X.]ht Jahren verurteilt, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde angeordnet. Die Freiheitsstrafe hat der Verurteilte bis zum 10. Dezember 2004 vollständig verbüßt, wobei er vom 22. November 2002 bis zum 11. Juni 2003 in einer Entziehungsanstalt untergebra[X.]ht war. Am 5. Oktober 2004 hat die Staatsanwalts[X.]haft beantragt, gegen den Verurteilten - 3 - die na[X.]hträgli[X.]he Si[X.]herungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 2 StGB anzuord-nen. Aufgrund Unterbringungsbefehl gemäß § 275a Abs. 5 StPO vom 6. De-zember 2004 ist der Verurteilte bis heute untergebra[X.]ht. 2. Das [X.] hat folgende Feststellungen getroffen: a) Der Verurteilte wu[X.]hs teilweise bei seiner Mutter und deren [X.] Lebenspartnern - sein Vater ist ihm unbekannt - und in vers[X.]hiedenen Kin-derheimen auf. Er besu[X.]hte ab dem zweiten S[X.]huljahr eine Sonders[X.]hule, die er häufig s[X.]hwänzte. Eine Ausbildung zum Maler wurde vom Lehrherrn na[X.]h ein bis zwei Monaten abgebro[X.]hen, weil der Verurteilte seiner Berufss[X.]hulpfli[X.]ht ni[X.]ht na[X.]hkam. Er lebte überwiegend von Sozialhilfe. Im Alter von 17 Jahren absolvierte er eine dreimonatige "Ausbildung" zum [X.]. Seit seinem zwölften Lebensjahr konsumierte er [X.], seit dem 17. Lebensjahr au[X.]h Kokain sowie Heroin und seit seinem 24. Lebensjahr zu-sätzli[X.]h große Mengen Alkohol. b) Der [X.] des Verurteilten enthält zwölf [X.]. Mit 14 Jahren stand er zum [X.] - wegen Diebstahls - vor [X.]. Mit 18 Jahren wurde er wegen gefährli[X.]her Körperverletzung in Tatmehr-heit mit Körperverletzung zu zwei Jahren Jugendstrafe verurteilt. Das Geri[X.]ht wertete diese Taten als "extreme Aggressionsdelikte". Der Verurteilte hatte u.a. einem Besu[X.]her des [X.] einen Fußki[X.]k gegen die linke Gesi[X.]htshälfte versetzt. Der Ges[X.]hädigte erlitt u.a. einen [X.], musste mehrfa[X.]h operiert werden und hat heute no[X.]h im Ge-si[X.]ht eine Asymmetrie und taube Stellen. [X.]) Dem Urteil vom 13. Dezember 1996 lagen folgende Sa[X.]hverhalte zugrunde: - 4 - aa) Der Verurteilte hatte mit dem

S. eine Rauferei. Als diese beendet und S. im Weggehen begriffen war, versetzte ihm der Verurteilte von hinten mit einem Messer einen wu[X.]htigen und tiefrei[X.]hen-den Sti[X.]h in den re[X.]hten Bau[X.]hberei[X.]h. [X.]erlitt einen Dur[X.]hsti[X.]h der Leber und konnte nur dur[X.]h eine umgehend dur[X.]hgeführte Notoperation gerettet werden. [X.]) Im Rahmen einer verbalen Auseinandersetzung mit der S[X.]h. zog der Verurteilte eine mitgeführte Gaspistole, hielt sie in einem Abstand von [X.]a. 10 [X.]m auf das Gesi[X.]ht der S[X.]h. geri[X.]htet und s[X.]hoss aus dieser Entfernung. Die zu Boden gestürzte S[X.]h. trat er mit dem Knie und den Füßen und s[X.]hlug mit den Fäusten mehrmals gegen ihren Kopf. Als deren Freundin B. sie zu s[X.]hüt-zen versu[X.]hte, s[X.]hlug sie der Verurteilte mit dem Ellenbogen, dem Knie und der Faust in das Gesi[X.]ht, was u.a. eine Gehirners[X.]hütterung verur-sa[X.]hte. Erst dur[X.]h das Eingreifen von Passanten konnte der Verurteilte von weiteren Angriffen gegen die beiden Frauen abgehalten werden. [X.][X.]) Na[X.]h einem Streit mit dem ihm bekannten Be. zog der Verurteilte mit den Worten "jetzt bist dro" ein Klappmesser und ver-setzte Be. drei wu[X.]htig geführte Sti[X.]he in die beiden Obers[X.]henkel, wobei ein Sti[X.]h (Sti[X.]htiefe 8 [X.]m) die Obers[X.]henkels[X.]hlagader nur knapp verfehlte. Bei allen Taten stand der Verurteilte unter dem Einfluss von Alkohol und Arz-neimitteln. Die Strafkammer sah von der Anordnung der Si[X.]herungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB im Hinbli[X.]k auf § 72 StGB ab, weil sie au[X.]h die Vor-aussetzungen einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 - 5 - StGB als erfüllt ansah, na[X.]hdem si[X.]h der Verurteilte in der Hauptverhandlung glaubhaft s[X.]huldeinsi[X.]htig und therapiemotiviert gezeigt hatte. d) Die Strafe aus dem Urteil vom 13. Dezember 1996 verbüßte der Ver-urteilte in der [X.]. Hier wurde bei ihm ein "hohes Aggressionspoten-tial" festgestellt. Es kam zu einer Vielzahl von Disziplinarverfahren. Einem die-ser Verfahren lag zugrunde, dass der Verurteilte wiederholt Rasierklingen unter seinem Haftraumtis[X.]h befestigt hatte, damit Vollzugsbeamte bei der [X.] si[X.]h verletzen konnten. Die im November 2002 begonnene Unterbringung in einer Entziehungs-anstalt musste im Juni 2003 als aussi[X.]htslos abgebro[X.]hen werden, na[X.]hdem der Verurteilte mehrfa[X.]h bezügli[X.]h Cannabis, Heroin und Kokain rü[X.]kfällig ge-worden war. Au[X.]h in der Haft - vor wie na[X.]h der Unterbringung - hat der Verur-teilte regelmäßig Raus[X.]hgift und Alkohol konsumiert. 3. Das [X.] hat die formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 2 StGB bejaht. Es hat weiterhin in einer grundlegenden Haltungsänderung des Verurteilten hinsi[X.]htli[X.]h der Wertung seiner Taten und seiner Therapiemotivati-on, aus der si[X.]h au[X.]h die zahlrei[X.]hen [X.] und der Therapieab-bru[X.]h ergeben hätten, neue Tatsa[X.]hen gesehen, die den S[X.]hluss auf eine deut-li[X.]h erhöhte Gefährli[X.]hkeit des Verurteilten zuließen. Auf der Grundlage der Guta[X.]hten der psy[X.]hiatris[X.]hen Sa[X.]hverständigen Prof. Dr. N. und [X.]ist das [X.] na[X.]h Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwi[X.]klung im Strafvollzug zu der Überzeugung gelangt, dass er na[X.]h einer Einlassung mit hoher Wahrs[X.]heinli[X.]hkeit erhebli[X.]he Straftaten begehen würde, dur[X.]h wel[X.]he die Opfer in ihrer körperli[X.]hen Unver-sehrtheit s[X.]hwer ges[X.]hädigt würden. - 6 - I[X.] Das Urteil hält der re[X.]htli[X.]hen Na[X.]hprüfung stand. Die na[X.]hträgli[X.]he Anordnung der Si[X.]herungsverwahrung gemäß § 66b StGB setzt eine besonders sorgfältige Abwägung zwis[X.]hen dem S[X.]hutzbedürf-nis der Allgemeinheit vor ho[X.]hgefährli[X.]hen Verurteilten und den Freiheitsgrund-re[X.]hten der dur[X.]h die na[X.]hträgli[X.]he Anordnung der Si[X.]herungsverwahrung Be-troffenen voraus. Eine sol[X.]he Maßnahme kommt nur bei einer geringen Anzahl denkbarer Fälle in Betra[X.]ht, wovon au[X.]h der Gesetzgeber ausdrü[X.]kli[X.]h [X.] ist (BTDru[X.]ks. 15/2887 S. 10; vgl. au[X.]h [X.] 109, 190, 236; [X.] vom 11. Mai 2005 - 1 StR 37/05 -, NJW 2005, 2022, zur Veröffentli-[X.]hung in [X.]St vorgesehen; [X.], Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05). 1. Grundlage einer na[X.]hträgli[X.]hen Anordnung der Si[X.]herungsverwahrung können nur Tatsa[X.]hen sein, die erst na[X.]h einer Verurteilung erkennbar werden und auf eine erhebli[X.]he Gefährli[X.]hkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen. Das Verfahren na[X.]h § 66b StGB gilt insbesondere ni[X.]ht der Korrek-tur re[X.]htsfehlerhafter früherer Ents[X.]heidungen, die von der Staatsanwalts[X.]haft ni[X.]ht beanstandet wurden (Senat aaO). Die grundlegende Haltungsänderung des Verurteilten, der vor der [X.] glaubhaft s[X.]huldeinsi[X.]htig und therapiemotiviert war und na[X.]h der [X.] Obstruktion betrieben und den Therapiea[X.]ru[X.]h provoziert hat, erfüllt die Voraussetzungen der erforderli[X.]hen "neuen" Tatsa[X.]he. Insbesondere sah si[X.]h das frühere Tatgeri[X.]ht im Hinbli[X.]k auf den Vorrang einer Maßnahme na[X.]h § 64 StGB na[X.]hvollziehbar ni[X.]ht in der Lage, bereits zum Zeitpunkt der damali-gen Hauptverhandlung die Si[X.]herungsverwahrung anzuordnen. Die Taten des Verurteilten waren auf seinen Hang zurü[X.]kzuführen, alkoholis[X.]he Getränke und - 7 - sonstige Raus[X.]hmittel im Übermaß zu si[X.]h zu nehmen. Das Geri[X.]ht konnte [X.] davon ausgehen, dass es den Zwe[X.]k, die Gefahr weiterer re[X.]htswidriger Taten abzuwenden, au[X.]h mit der den Verurteilten weniger bes[X.]hwerenden Un-terbringung in einer Entziehungsanstalt errei[X.]hen konnte. [X.] der materiell-re[X.]htli[X.]hen Prüfung einer Maßregel na[X.]h § 66b StGB ist - unter Eins[X.]hluss der Tatsa[X.]hen, die die Prüfung ausgelöst haben - die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwi[X.]klung während des Strafvollzugs. Mit einer sol[X.]hen umfassenden Abwä-gung soll einer unzulässigen Übergewi[X.]htung einzelner neuer Tatsa[X.]hen ent-gegengewirkt werden. Das [X.] stellt seine Abwägung zutreffend auf eine entspre[X.]hend breite Grundlage. Als negativ für die vorzunehmende Prognose wertet es die biographis[X.]hen Faktoren des Verurteilten, insbesondere die seit der Kindheit instabilen Lebensverhältnisse und frühe Verhaltensauffälligkeiten, seine dur[X.]h eine dissoziale Störung gekennzei[X.]hnete Persönli[X.]hkeit, die dur[X.]h Aggressivität und Brutalität gekennzei[X.]hneten Vor- und Anlasstaten sowie die hohe Frequenz der Straffälligkeit, das Su[X.]htverhalten des Verurteilten und die [X.] im Vollzug mit zum Teil aggressiven und au[X.]h hinterlistigen Tendenzen. In dieser Gesamts[X.]hau gewinnt au[X.]h die vom [X.] als neue Tatsa[X.]he zugrunde gelegte Haltungsänderung des Verurteilten bis hin zu einer Verweige-rungshaltung erhebli[X.]hes Gewi[X.]ht. Wenn das [X.] demna[X.]h - gestützt auf fundierte Guta[X.]hten der beiden Sa[X.]hverständigen - die hohe - 8 - Wahrs[X.]heinli[X.]hkeit s[X.]hwerer Straftaten gegen das Leben oder die körperli[X.]he Unversehrtheit anderer für ausrei[X.]hend belegt hält, ist dies von Re[X.]hts wegen ni[X.]ht zu beanstanden. Na[X.]k Wahl Boetti[X.]her Kolz Elf

Meta

1 StR 482/05

08.12.2005

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 08.12.2005, Az. 1 StR 482/05 (REWIS RS 2005, 377)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2005, 377

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