Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11.12.2019, Az. 2 StR 498/19

2. Strafsenat | REWIS RS 2019, 500

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Gegenstand

Ablehnung von Beweisanträgen im Strafverfahren: Inhaltsanforderungen an einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Zwecke der Diagnose einer FASD-Behinderung


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 5. August 2019 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere [X.] als Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, davon in zwei Fällen jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, wegen Herstellens von kinderpornographischen Schriften sowie wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften in Tateinheit mit Besitz jugendpornographischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 [X.]).

I.

2

Die Revision rügt zu Recht, das [X.] habe einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu Unrecht abgelehnt. Dem liegt folgendes Prozessgeschehen zugrunde:

3

1. In der Hauptverhandlung am 15. August 2018 stellte der Verteidiger des Angeklagten einen Beweisantrag zur Einholung eines psychoanalytischen/psychiatrischen Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass bei dem Angeklagten eine sog. „[X.] (= Fetal Alcohol Spectrum Disorder) Behinderung vorliege und infolge dieser Behinderung der Angeklagte bei der Begehung der ihm zur Last gelegten Taten wegen einer krankhaften seelischen Störung unfähig gewesen sei, das Unrecht seiner Taten einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Zur Begründung wurde ausgeführt, laut schriftlicher Mitteilung der Adoptivmutter des Angeklagten vom 27. Juni 2019 solle bei dem Angeklagten eine „[X.]Behinderung vorliegen, da seine leibliche Mutter während der Schwangerschaft im Übermaß Alkohol getrunken habe. Bei Vorliegen dieser Behinderung könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte zu den jeweiligen Zeitpunkten schuldunfähig bzw. zumindest vermindert schuldunfähig gewesen sei. Insbesondere müsse in diesem Zusammenhang auch berücksichtigt werden, dass der Angeklagte aufgrund seiner eigenen Einlassung am heutigen Verhandlungstag täglich eine Flasche Schnaps sowie mehrere Flaschen Bier im Tatzeitraum getrunken habe, also hochgradig alkoholisiert gewesen sei.

4

Die Bescheinigung der Adoptivmutter, die ausführt, „es gehe um FASD“, „seine leibliche Mutter habe in der Schwangerschaft Alkohol getrunken und nicht zu wenig“, wurde in der Hauptverhandlung verlesen. Das [X.] lehnte den Beweisantrag in der Hauptverhandlung ab. Zur Begründung führte die [X.] aus, es seien auch bei Vorliegen von übermäßigem Alkoholkonsum der Mutter des Angeklagten in der Schwangerschaft keinerlei Hinweise dazu ersichtlich, dass die Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei den Taten erheblich eingeschränkt oder gar aufgehoben gewesen seien.

5

2. Die Zurückweisung des [X.] hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

6

a) Bei dem Antrag des Angeklagten handelte es sich um einen Beweisantrag. Er bezeichnet nicht lediglich das Beweisziel, das Vorliegen eines Schuldausschlusses nach § 20 StGB bzw. einer verminderten Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB, sondern behauptet mit dem Hinweis auf das Vorliegen einer „[X.]Behinderung und einer sich daraus ergebenden Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit des Angeklagten eine bestimmte Tatsache, die auch dem [X.] zugänglich ist. Mit der Nennung einer Diagnose, die der Sachverständige stellen soll, bezeichnet der Beweisantrag eine Tatsachenbehauptung, die über die bloße Schlussfolgerung der Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit hinausgeht (vgl. [X.], Beschluss vom 30. September 2014 – 3 [X.], [X.], 206; [X.]/[X.], 27. Aufl., § 244 Rn. 98).

7

Die unter Beweis gestellte Behauptung einer solchen Erkrankung ist auch nicht ins Blaue aufgestellt worden. Die Erklärung der Adoptivmutter des Angeklagten, die in dem Beweisantrag in Bezug genommen worden ist, bietet eine noch hinreichende Grundlage für die unter Beweis gestellte Tatsache. Weiteren Vorbringens zu den möglichen Auswirkungen einer solchen Erkrankung auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten bedurfte es nicht. An einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens dürfen mit Blick auf die Prüfung, ob eine hinreichend konkretisierte Beweisbehauptung aufgestellt ist, keine überspannten Anforderungen gestellt werden; denn insoweit ist der Antragsteller vielfach nicht in der Lage, die der Beweisbehauptung zugrunde liegenden Vorgänge oder Zustände exakt zu bezeichnen (vgl. etwa [X.], Beschluss vom 10. April 2019 – 4 StR 25/19, [X.], 628). So liegt es auch hier. Ob beim Angeklagten eine „[X.]Erkrankung vorliegt und ob und gegebenenfalls in welcher Weise eine solche Erkrankung Einfluss auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten genommen hat, ist gerade die vom Sachverständigen zu beantwortende und beim Angeklagten nicht vorhandenes Spezialwissen erfordernde Frage.

8

b) Die Ablehnung des [X.] begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das [X.] hat sich weder ausdrücklich auf einen der in § 244 Abs. 3 bis 5 [X.] abschließend genannten Ablehnungsgründe gestützt, noch lässt sich, wie der [X.] meint, der Ablehnungsbegründung entnehmen, dass einer dieser Ablehnungsgründe die Zurückweisung rechtfertigt. Insbesondere rechtfertigt der Ablehnungsbeschluss keine Zurückweisung wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit der unter Beweis gestellten Tatsache. Aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos sind Tatsachen, wenn der Nachweis ihres Vorliegens im Ergebnis nichts erbringen kann, weil er die Beweiswürdigung nicht zu beeinflussen vermag. Zur Prüfung der Erheblichkeit ist die unter Beweis gestellte Tatsache wie eine erwiesene Tatsache in das bisherige Beweisergebnis einzufügen; es ist zu fragen, ob hierdurch die Beweislage in einer für den Urteilsspruch relevanten Weise beeinflusst würde. Dabei ist die [X.] als Teil des Gesamtergebnisses in ihrer indiziellen Bedeutung zu würdigen (st. Rspr.; vgl. zuletzt [X.], Beschluss vom 3. Dezember 2015 – 2 [X.], [X.], 365). Diesen Anforderungen wird die landgerichtliche Ablehnungsbegründung nicht gerecht. Die [X.] hat schon nicht – wie es notwendig gewesen wäre – die unter Beweis gestellte Tatsache einer „[X.]Erkrankung beim Angeklagten als erwiesenen Teil des Gesamtergebnisses gewürdigt. Sie hat sich im Ergebnis vielmehr darauf beschränkt, als erwiesen anzusehen, dass die Mutter des Angeklagten übermäßig Alkohol in der Schwangerschaft zu sich genommen habe, hat damit aber lediglich die Grundlagen der aufgestellten Beweisbehauptung in den Blick genommen, ohne den Beweisantrag mit seiner Tatsachenbehauptung einer vorgeburtlichen Schädigung durch Alkoholkonsum der Mutter vollständig zu erfassen. Im Übrigen begegnet die Würdigung der [X.] auch insoweit erheblichen Bedenken, als sie einen maßgeblichen Einfluss des Alkoholkonsums der Mutter auf die Steuerungsfähigkeit – aus eigener Sachkunde – verneint. Steht – wie hier – letztlich eine Hirnschädigung im Raum, liegt regelmäßig die Annahme eigener Sachkunde fern. Ob bei dem Angeklagten eine psychische Erkrankung tatsächlich vorliegt, vermag nur ein Sachverständiger mit einem medizinischen Spezialwissen anhand des konkreten Falles zuverlässig zu beurteilen (vgl. [X.], Beschluss vom 23. Februar 2000 – 3 StR 15/00; [X.]/[X.], [X.], 62. Aufl., § 244 Rn. 74b mwN).

9

c) Auf der fehlerhaften Ablehnung des [X.] beruht jedenfalls der Strafausspruch. Der [X.] kann zwar ausschließen, dass ein eingeholtes Sachverständigengutachten zur Annahme der Voraussetzungen des § 20 StGB gekommen wäre, nicht aber, dass sich daraus das Vorliegen einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit ergeben hätte.

II.

Die Sache bedarf damit – da die Überprüfung des Schuldspruchs aufgrund der allgemeinen Sachrüge keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 [X.]) – lediglich hinsichtlich des Strafausspruchs neuer Verhandlung und Entscheidung.

Franke     

        

     Krehl     

        

Eschelbach

        

Ri[X.] Meyberg ist
wegen Krankheit
gehindert zu
unterschreiben.

        

Grube     

        
        

Franke

                          

Meta

2 StR 498/19

11.12.2019

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Gera, 5. August 2019, Az: 2 KLs 7/19

§ 244 Abs 3 StPO, § 244 Abs 4 StPO, § 20 StGB, § 21 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11.12.2019, Az. 2 StR 498/19 (REWIS RS 2019, 500)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 500

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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4 StR 25/19

3 StR 351/14

2 StR 177/15

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