Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 05.10.2015, Az. 2 BvR 2605/12

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2015, 4444

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Parallelentscheidung


Tenor

Der Beschluss des [X.] für das [X.] vom 15. Oktober 2012 - 6 A 499/11 -, das Urteil des [X.] vom 27. Januar 2011 - 4 K 2313/09 - und der Bescheid der [X.] vom 5. August 2009 - 47 [X.] - 191 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 33 Absatz 2 des Grundgesetzes. Der Beschluss des [X.] und das Urteil des [X.] werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Das [X.] hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Der Gegenstandswert für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 60.000 € (in Worten: sechzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung der Verbeamtung aufgrund einer Höchstaltersgrenze. Sie ist angestellte Lehrerin im öffentlichen Schuldienst des [X.] und begehrt die Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Probe, obwohl sie das 40. Lebensjahr und damit die laufbahnrechtliche Altersgrenze für die Einstellung bereits überschritten hat.

2

1. Lehrerinnen und Lehrer an öffentlichen Schulen werden in [X.], sofern die laufbahn- und sonstigen beamtenrechtlichen Voraussetzungen vorliegen, in der Regel verbeamtet (§ 57 Abs. 4 Satz 2 des Schulgesetzes für das Land [X.] vom 15. Februar 2005 in der Fassung des [X.] ). Sie können auch als Tarifbeschäftigte nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) angestellt werden (Runderlass des [X.] vom 23. April 2007 - BASS 21-01 Nr. 11). Die Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Probe richtet sich unter anderem nach den Vorschriften der Verordnung über die Laufbahnen der Beamtinnen und Beamten im Lande [X.] ([X.] - LVO).

3

2. Die 1955 geborene Beschwerdeführerin betreute bis 1983 ihre in den Jahren 1973 und 1976 geborenen Töchter. Im [X.] besuchte sie das [X.] in [X.] und erreichte 1985 die allgemeine Hochschulreife. Von 1986 bis 1991 studierte sie Kunst und Sozialwissenschaften. Sie bestand 1991 die Erste Staatsprüfung und 1994 die Zweite Staatsprüfung für das Lehramt (Sekundarstufe I). Seit 2000 ist die Beschwerdeführerin im Schuldienst des [X.] angestellt. Einen im Jahr 2002 gestellten Verbeamtungsantrag lehnte die [X.] unter Hinweis auf die Überschreitung der damals geltenden [X.]sgrenzen ab. [X.] bestand sie die Erste Staatsprüfung für das Lehramt der Sekundarstufe II.

4

3. Das [X.] erklärte mit Urteil vom 19. Februar 2009 - 2 C 18.07 - (BVerwGE 133, 143) die [X.]sgrenzen der [X.] vom 23. November 1995 (GVBl 1996 S. 1) in der Fassung des [X.] (GVBl S. 498) für unwirksam. Da [X.]sgrenzen im Beamtenrecht den [X.] aus Art. 33 Abs. 2 GG einschränkten, dürften sie nicht voraussetzungslos im Ermessen der Verwaltung stehen. Der Gesetzgeber müsse ihre Regelung einschließlich der Ausnahmetatbestände selbst treffen.

5

4. Aufgrund von § 5 Abs. 1 Landesbeamtengesetz ([X.]) in der Fassung vom 21. April 2009 ([X.]) beschloss die Landesregierung mit Wirkung zum 18. Juli 2009 in Artikel 1 der Verordnung zur Änderung der [X.] und anderer dienstrechtlicher Vorschriften ([X.]) eine teilweise Neuregelung der [X.] (im Folgenden [X.]). Sie hob die Altersgrenze zur Einstellung oder Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Probe an; in das Beamtenverhältnis konnte danach berufen werden, wer das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Zugleich normierte sie die Möglichkeiten des Überschreitens der Höchstaltersgrenze neu.

6

5. Bezugnehmend auf das Urteil des [X.]s vom 19. Februar 2009 (BVerwGE 133, 143) beantragte die Beschwerdeführerin im Mai 2009 die Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Probe. Die [X.] lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5. August 2009 auf Grundlage der Neuregelung der [X.] ab.

7

6. Die hiergegen erhobene Klage wies das [X.] mit Urteil vom 27. Januar 2011 ab. Im entscheidungserheblichen [X.]punkt der mündlichen Verhandlung habe die Beschwerdeführerin die laufbahnrechtliche Höchstaltersgrenze überschritten. Die Vorschriften der §§ 6, 52, 84 [X.] seien nach der Rechtsprechung des [X.] und des [X.]s wirksam. Ein Ausnahmetatbestand greife nicht ein. Zugunsten der Beschwerdeführerin unterstellte [X.] von sechs Jahren könnten die Überschreitung der Höchstaltersgrenze nicht ausgleichen. Auch lägen die Voraussetzungen von § 84 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 [X.] nicht vor. Der Dienstherr habe auch die Neuregelung der [X.] abwarten dürfen. Allein der Umstand, dass zur [X.] der Antragstellung keine Höchstaltersgrenze bestanden habe, lasse die Anwendung der Neuregelung nicht unbillig erscheinen.

8

7. Den gegen die Entscheidung des [X.] gerichteten Antrag auf Zulassung der Berufung wies das Oberverwaltungsgericht für das Land [X.] mit Beschluss vom 15. Oktober 2012 zurück. Das Verwaltungsgericht habe zutreffend für die Frage der Verbeamtung auf den [X.]punkt der gerichtlichen Entscheidung abgestellt und das Vorliegen eines Ausnahmetatbestandes verneint. Die Neuregelungen zur Höchstaltersgrenze seien mit Art. 33 Abs. 2 GG und mit Unionsrecht vereinbar, wie auch das [X.] in seinem Urteil vom 23. Februar 2012 (BVerwGE 142, 59) festgestellt habe. Auch ließen sich die entscheidungserheblichen unionsrechtlichen Fragen auf Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] beantworten, so dass eine Vorlagepflicht nicht bestehe.

II.

9

1. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich unmittelbar gegen die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen sowie den Bescheid der Bezirksregierung, mittelbar auch gegen § 6, § 52 Abs. 1 und § 84 Abs. 2 [X.]. Die Beschwerdeführerin rügt insbesondere die Verletzung von Art. 33 Abs. 2, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, des Demokratieprinzips (Art. 20 Abs. 2 GG) und des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG). Das [X.] stelle zudem eine nicht gerechtfertigte Altersdiskriminierung nach der Richtlinie 2000/78/[X.] vom 27. November 2000 ([X.] vom 2. Dezember 2000, [X.] ff.) dar. Insofern liege zugleich ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor, denn das Oberverwaltungsgericht hätte das Verfahren wegen der ungeklärten unionsrechtlichen Fragen dem Gerichtshof der [X.] vorlegen müssen.

2. Die Verfassungsbeschwerde wurde der Landesregierung [X.] unter Hinweis auf die Entscheidung in den Senatsverfahren 2 BvR 1322/12 und 2 BvR 1989/12 zugestellt. Eine über die vorgenannten Verfahren hinausgehende weitere Stellungnahme ist nicht erfolgt. Die Gerichtsakten der Vorinstanzen haben der Kammer vorgelegen.

III.

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die Verfassungsbeschwerde ist mit Blick auf die für den vorliegenden Fall maßgeblichen und durch das [X.] bereits hinreichend geklärten Fragen offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]).

2. Die angegriffenen Entscheidungen greifen in Grundrechte der Beschwerdeführerin ein. Da das [X.] in seinem Beschluss vom 21. April 2015 - 2 BvR 1322/12 und 2 BvR 1989/12 - festgestellt hat, dass die durch die Verordnung des [X.] in der Fassung vom 30. Juni 2009 auf der Grundlage des § 5 Abs. 1 Satz 1 [X.] festgelegten Höchstaltersgrenzen für die Einstellung in das Beamtenverhältnis auf Probe mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind, fehlt es auch für den ablehnenden Bescheid gegenüber der Beschwerdeführerin an einer Ermächtigungsgrundlage. Die Regelungen der § 6 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1 und § 84 Abs. 2 [X.], nach denen die Einstellung aufgrund des erreichten Lebensalters verweigert werden kann, verstoßen insoweit gegen Art. 33 Abs. 2 GG. Die auf diesen Vorschriften beruhenden gerichtlichen und behördlichen Entscheidungen verletzen daher die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 33 Abs. 2 GG.

3. Gemäß § 95 Abs. 2 [X.] sind die angegriffenen Entscheidungen des [X.] für das Land [X.] und des [X.] Minden aufzuheben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen, weil zu erwarten ist, dass der [X.] dort auf der Grundlage des vorliegenden Urteils zum Abschluss gebracht werden kann. Bei einer Zurückverweisung an das Oberverwaltungsgericht müsste dieses, bevor es zu einer das Verfahren beendenden Entscheidung gelangen könnte, erst über den Antrag der Beschwerdeführerin befinden, die Berufung gemäß §§ 124 ff. VwGO zuzulassen (vgl. [X.] 104, 337 <356>).

4. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 [X.].

5. Grundlage der Festsetzung des Gegenstandswerts für das Verfassungsbeschwerdeverfahren ist § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. [X.] 79, 365 <366 ff.>). Die Erhöhung des Gegenstandswertes gegenüber den Festsetzungen der Instanzgerichte ergibt sich aus der objektiven Bedeutung der Verfahren im Hinblick auf die Regelungen beamtenrechtlicher [X.]sgrenzen.

Meta

2 BvR 2605/12

05.10.2015

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 15. Dezember 2012, Az: 6 A 499/11, Beschluss

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 05.10.2015, Az. 2 BvR 2605/12 (REWIS RS 2015, 4444)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 4444

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