30. Senat | REWIS RS 2017, 2634
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Markenbeschwerdeverfahren – "NeuroMatrix (IR-Marke)" – Unterscheidungskraft – kein Freihaltungsbedürfnis
In der Beschwerdesache
…
betreffend die international registrierte Marke IR 1 160 635
hat der 30. Senat (Marken- und [X.]) des [X.] auf die mündliche Verhandlung vom 9. November 2017 unter Mitwirkung des Vorsitzenden [X.]s Professor Dr. Hacker sowie der [X.] [X.] und Dr. Meiser
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Markeninhaberin wird der Beschluss der Markenstelle für Klasse 5 - [X.] - des [X.] vom 10. August 2016 aufgehoben.
I.
Um Schutz in der [X.] wird nachgesucht für die international registrierte Marke [X.] 160 635
[X.]
Das Warenverzeichnis lautet:
„
Mit Beschluss vom 10. August 2016 hat die Markenstelle für Klasse 5 - internationale Markenregistrierung - des [X.] der Marke den Schutz in der [X.] wegen [X.] nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 [X.] verweigert.
[X.] richte sich an auf neurologische Erkrankungen bzw. Verletzungen spezialisierte Ärzte und Kliniken ebenso wie an den am Handel mit neurochirurgischen Spezialprodukten beteiligten [X.]. Das Markenzeichen bestehe zum einen aus dem sowohl im [X.] wie auch im [X.] gebräuchlichen Präfix „Neuro“, dem der Bedeutungsgehalt „Nerven-, Nervensystem-, Nervenstrang“ zukomme. Zum weiteren Bestandteil „[X.]“ sei im vorliegenden Warenkontext die Bedeutung „extrazelluläre [X.]“ einschlägig, womit der Anteil des Gewebes, der zwischen den Zellen im sogenannten [X.] liege, bezeichnet werde (unter Hinweis auf den Wikipedia-Eintrag zum Stichwort „Extrazelluläre [X.]“). Vor allem im Bindegewebe mache Kollagen einen großen Bestandteil der extrazellulären [X.] aus. Den sperrigen und langen Fachbegriff „extrazelluläre [X.]“ auf „[X.]“ zu verkürzen, sei gerade in der Medizin üblich.
[X.] als beschreibende Sachangabe zur Anpreisung ihrer Konkurrenzprodukte im Inland zu verwenden.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin.
[X.] handele es sich weder um einen feststehenden, allgemein verständlichen Begriff, noch um einen Fachterminus in der Medizin. Die einzige nachweisbare Verwendung der Bezeichnung stamme von [X.], Professor für Psychologie an der [X.], der das komplexe System der Erzeugung und Wahrnehmung von [X.] untersucht und alleine in diesem Zusammenhang den Begriff der [X.] eingeführt habe. Die [X.] nach [X.] stehe allerdings in keinerlei Sachzusammenhang zu den vorliegend beanspruchten Waren. Entgegen der Argumentation der Markenstelle seien auch keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der [X.] die Bezeichnung „[X.]“ im Sinne von „extrazellulärer [X.]“ verstehen sollte. Die von der Markenstelle angestrengte Interpretation zeige bereits, dass eine mögliche Begriffsdeutung nur unter erheblichen gedanklichen Anstrengungen und im Wege einer analysierenden Betrachtung vorgenommen werden könne.
Das Markenwort sei daher nicht beschreibend und weise die erforderliche Unterscheidungskraft auf. Ferner sei darauf zu verweisen, dass die [X.] gerade auch in englischsprachigen Ländern beanstandungsfrei eingetragen worden sei.
Die Antragstellerin beantragt,
den Beschluss der Markenstelle für Klasse 5 - [X.] - des [X.] vom 10. August 2016 aufzuheben.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
Die gemäß § 64 Abs. 6 Satz 1, § 66 [X.] zulässige Beschwerde der [X.]ninhaberin hat auch in der Sache Erfolg.
[X.] stehen für das Gebiet der [X.] keine absoluten Schutzhindernisse gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 [X.] entgegen. Gemäß §§ 119, 124, 113, 37, 8 Abs. 2 Nr. 1, 2 [X.] in Verbindung mit Art. 5 PMMA, Art 6
1. Unterscheidungskraft im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 [X.] ist die einem Zeichen innewohnende (konkrete) Eignung, vom Verkehr als Unterscheidungsmittel aufgefasst zu werden, das die beanspruchten Waren oder Dienstleistungen als von einem bestimmten Unternehmen stammend kennzeichnet und diese somit von denjenigen anderer Unternehmen unterscheidet (vgl. z. [X.] [X.] 2012, 610 (Nr. 42) - [X.]; [X.] 2008, 608, 611 (Nr. 66) - [X.]; [X.] 2015, 173, 174 (Nr. 15) - for you; [X.] 2014, 565, 567 (Nr. 12) - smartbook; [X.] 2013, 731 (Nr. 11) - [X.]; [X.] 2012, 1143 (Nr. 7) - [X.], jeweils m. w. N.). Denn die Hauptfunktion einer Marke besteht darin, die Ursprungsidentität der gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen zu gewährleisten (vgl. etwa [X.] [X.] 2010, 1008, 1009 (Nr. 38) - [X.]; [X.] 2008, 608, 611 (Nr. 66) - [X.]; [X.] 2006, 233, 235, Nr. 45 - Standbeutel; [X.] 2015, 173, 174 (Nr. 15) - for you; [X.] 2009, 949 (Nr. 10) - My World). Da allein das Fehlen jeglicher Unterscheidungskraft ein Eintragungshindernis begründet, ist nach der Rechtsprechung des [X.] ein großzügiger Maßstab anzulegen, so dass jede auch noch so geringe Unterscheidungskraft genügt, um das Schutzhindernis zu überwinden (vgl. [X.] 2015, 173, 174 (Nr. 15) - for you; [X.] 2014, 565, 567 (Nr. 12) - smartbook; [X.] 2012, 1143 (Nr. 7) - [X.]; [X.] 2012, 270 (Nr. 8) – Link economy).
Maßgeblich für die Beurteilung der Unterscheidungskraft sind einerseits die beanspruchten Waren oder Dienstleistungen und andererseits die Auffassung der beteiligten inländischen Verkehrskreise, wobei auf die Wahrnehmung des Handels und/oder des normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen [X.] bzw. -abnehmers der fraglichen Produkte abzustellen ist (vgl. [X.] [X.] 2006, 411, 412 (Nr. 24) - Matratzen Concord/Hukla).
Hiervon ausgehend besitzen Marken dann keine Unterscheidungskraft, wenn ihnen die maßgeblichen Verkehrskreise im Zeitpunkt der Anmeldung des Zeichens (vgl. [X.] 2013, 1143, Nr. 15 - Aus Akten werden Fakten) bzw. im Zeitpunkt des Schutzerstreckungsgesuchs lediglich einen im Vordergrund stehenden beschreibenden Begriffsinhalt zuordnen (vgl. [X.] [X.] 2004, 674, 678, Nr. 86 - Postkantoor; [X.] 2012, 270, 271, Nr. 11 - Link economy; [X.] 2009, 952, 953, Nr. 10 - [X.]; [X.] 2006, 850, 854, Nr. 19 - [X.]; [X.] 2005, 417, 418 - [X.]; [X.] 2001, 1151, 1152 - marktfrisch; [X.] 2001, 1153 - antiKALK) oder wenn diese aus gebräuchlichen Wörtern oder Wendungen der [X.] oder einer geläufigen Fremdsprache bestehen, die - etwa wegen einer entsprechenden Verwendung in der Werbung oder in den Medien - stets nur als solche und nicht als Unterscheidungsmittel verstanden werden (vgl. u. a. [X.] 2006, 850, 854, Nr. 19 - [X.]; [X.] 2003, 1050, 1051 - [X.]; [X.] 2001, 1043, 1044 - Gute Zeiten - Schlechte Zeiten). Darüber hinaus besitzen keine Unterscheidungskraft auch solche Zeichen, die sich auf Umstände beziehen, welche die beanspruchten Waren oder Dienstleistungen zwar nicht unmittelbar betreffen, durch die aber ein enger beschreibender Bezug zu diesen hergestellt wird (vgl. [X.] 2010, 1100, Nr. 23 - [X.]!; [X.] 2006, 850, 855, Nr. 28 f. - [X.]).
2. Nach diesen Grundsätzen kann dem Wortzeichen [X.] die notwendige Unterscheidungskraft im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 1 [X.] nicht abgesprochen werden.
a) Mit der Markenstelle ist allerdings im Ausgangspunkt davon auszugehen, dass sich die schutzsuchende Wortkombination an auf Nervenverletzungen spezialisierte Ärzte, Neurochirurgen und Kliniken ebenso wie an den am Handel mit neurochirurgischen Spezialprodukten beteiligten [X.] richtet.
b) Das Markenwort [X.] setzt sich - schon aufgrund der Binnengroßschreibung für den angesprochenen Verkehr unmittelbar erkennbar - aus den Wortbestandteilen „Neuro-“ und „[X.]“ zusammen.
c) Der Bestandteil „Neuro-“ ist sowohl in der [X.] wie auch in der [X.] ein gebräuchliches Präfix mit der Bedeutung „Nerven-, Nervensystem, Nervenstrang“ (vgl. so schon [X.] PAVIS PROMA, 28 W (pat) 40/08 - NeuroLocator).
d) Der weitere Bestandteil „[X.]“ entstammt dem (Neu-)Lateinischen und bedeutet ursprünglich „Gebärmutter“ bzw. eigentlich „Muttertier“ (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/[X.]).
Im [X.] kommen dem Begriff je nach Sachzusammenhang lexikalisch nachvollziehbar (vgl. www.duden.de) folgende Bedeutungen zu:
„1. a (Biologie) Hülle der Chromosomen
b (Biologie) amorphe Grundsubstanz (z. B. des Bindegewebes)
c (Biologie) Keimschicht, aus der etwas (z. B. das Nagelbett) entsteht
2. (Mathematik) System von mathematischen Größen, das in einem Schema von waagerechten Zeilen und senkrechten Spalten geordnet ist und zur verkürzten Darstellung linearer Beziehungen in Naturwissenschaften, Technik und Wirtschaftswissenschaften dient
3. (EDV) System, das einzelne zusammengehörende Faktoren darstellt und zur verkürzten Darstellung linearer Beziehungen in Naturwissenschaften, Technik und Wirtschaftswissenschaften dient
4. (Sprachwissenschaft) Schema zur Zuordnung von Merkmalen zu sprachlichen Einheiten, besonders zur Darstellung der Lautstruktur einer Sprache“.
e) Ausgehend hiervon kann der Auffassung der Markenstelle, dass sich dem [X.] auch die Wortkombination [X.] unmittelbar als Zeichen mit beschreibendem Sinngehalt oder zumindest engem beschreibenden Bezug zu den relevanten Waren erschließen wird, nicht beigetreten werden.
[X.]“ verkürzt (bzw. er umgekehrt von „[X.]“ auf Anhieb auf „extrazelluläre [X.]“ schließt), hat die Markenstelle nicht näher belegt, und es bestehen auch im Übrigen keine Anhaltspunkte hierfür. Selbst wenn man aber ein derartiges Verständnis unterstellt, liegt eine unmittelbare Gleichsetzung von „[X.]“ mit „Kollagen“ bzw. „aus Kollagen hergestellten Waren“ fern. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Marke aus Sicht des [X.]s einen Bezug zu der „Reparatur (Behandlung) von unterbrochenen peripheren Nervensträngen durch aufbereitetes Collagen“ aufweist. Hierfür bedürfte es jedenfalls mehrerer Gedankenschritte im Rahmen einer analysierenden Betrachtungsweise, was aber bereits die Unterscheidungskraft im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 [X.] begründet.
f) Die Unterscheidungskraft lässt sich jedenfalls [X.] um einen medizinischen Fachbegriff handelt.
aa) Allerdings ist [X.] als Fachbegriff im „Lexikon der Neurowissenschaft“ ([X.]) wie folgt erfasst:
„[X.] w [von [X.]. [X.] = Nerv, [X.]. matrix = Mutter, Ursprung], das genetische Programm ([X.]) für die Entwicklung des Nervensystems, dessen Expression durch epigenetische Faktoren moduliert wird. Die artspezifische [X.] erfährt im Laufe der Phylogenese durch Selektion eine Anpassung an die bestehenden Umweltbedingungen.“
[X.]-Theorie eingeführt. [X.], Professor für Psychologie an der [X.] in [X.], hat das komplexe System der Erzeugung und Wahrnehmung von [X.]en (sog. Phantomsensationen) untersucht und hierfür den Begriff der [X.] geprägt. Diese [X.] sei „nichts [X.]“. Sie beschreibe das „Gesamtsystem von [X.] und Gehirn“, einen Komplex, der Reizempfänger, [X.], Reizauslöser und genauso Erlerntes, ererbtes Bewusstsein und Unterbewusstsein umfasse. Auf der [X.] sind nach [X.]s Theorie Neurosignaturen geprägt, die auf bestimmte Signale immer gleich reagieren. [X.] und -gefühle sind für [X.] eine Reaktion auf Störungen, welche die [X.] nicht akzeptiert (vgl. etwa den Wikipedia-Eintrag zum Stichwort „[X.]“; siehe auch bereits „[X.] SPECIAL 7/1998, „Folternde Geister“).
bb) Wenngleich somit eine Verwendung des Markenwortes [X.] als Fachbegriff in der Schmerzmedizin belegbar ist und ausgehend hiervon auch das begriffliche Verständnis der Gesamtbezeichnung als solcher dem Fachpublikum möglicherweise keinerlei Schwierigkeiten bereitet, drängt sich gleichwohl vorliegend ein Sachbezug zu den alleine beanspruchten Waren der Klasse 5 nicht auf.
Denn aufgrund der dargestellten, im Vordergrund stehenden Verwendung im speziellen Kontext der Schmerzmedizin liegt für den [X.] auch vorliegend allenfalls der Gedanke an die - zur Erklärung von [X.]en entwickelte - „[X.]-Theorie“ von [X.] nahe. Ein Sachbezug zu den konkret beanspruchten Waren der [X.] ist aber weder belegbar, noch drängt er sich sonst auf. Es ist nach einer ergänzenden Recherche des Senats insbesondere auch nicht belegbar, dass die beanspruchten Waren, also
[X.] unmittelbar als beschreibenden Sachhinweis zu verstehen; ebenso wenig lässt sich feststellen, dass das Markenzeichen zumindest einen engen beschreibenden Bezug hierzu aufweist. [X.] ergibt im vorliegenden [X.] keinen unmittelbar nachvollziehbaren Gesamtsinn, und es lässt sich insoweit auch keine Verwendung des Gesamtbegriffs für den relevanten Warensektor belegen, die nicht auf die Markeninhaberin zurückgehen würde.
Somit fehlt dem Markenzeichen für die beanspruchten Waren nicht die erforderliche Unterscheidungskraft.
3. Aus den vorgenannten Gründen unterliegt die verfahrensgegenständliche [X.] im vorliegenden [X.] auch keinem Freihaltebedürfnis im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 2 [X.].
Der Beschwerde war daher stattzugeben.
Meta
09.11.2017
Beschluss
Sachgebiet: W (pat)
Zitiervorschlag: Bundespatentgericht, Beschluss vom 09.11.2017, Az. 30 W (pat) 515/17 (REWIS RS 2017, 2634)
Papierfundstellen: REWIS RS 2017, 2634
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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.
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