Bundesfinanzhof, Beschluss vom 26.02.2020, Az. VIII B 56/19

8. Senat | REWIS RS 2020, 3474

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Gegenstand

Sachaufklärungspflicht des FG; Versendung von Steuerbescheiden durch ein Rechenzentrum


Leitsatz

1. NV: Das FG verstößt gegen seine Sachaufklärungspflicht, wenn es keine Ermittlungen zu einem tatsächlichen Geschehen anstellt, auf das es unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung ankommt, wenn sich solche Ermittlungen aufdrängen (vgl. BFH-Beschluss vom 22.05.2006 - X B 190/05, BFH/NV 2006, 1681).

2. NV: Geht das FG in rechtlicher Hinsicht davon aus, dass bei maschinell-elektronischer Versendung von Steuerbescheiden durch ein Rechenzentrum aufgrund eines Anscheinsbeweises vom Datum des Bescheids auf das Datum der Aufgabe zur Post geschlossen werden kann, hat es zu ermitteln, ob durch den Ablauf der Postversendung im Rechenzentrum gewährleistet ist, dass der Tag der Aufgabe zur Post regelmäßig mit dem Datum des Bescheids übereinstimmt.

Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom [X.] - 9 K 1027/18 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

1

Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --[X.]--) erließ gegen den Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) unter dem 20.10.2017 den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2016. Der Bescheid wurde maschinell erstellt. Gegen den Bescheid legte der Kläger ausweislich des Eingangsstempels des [X.] am 01.12.2017 Einspruch ein. Diesen Einspruch verwarf das [X.] mit Einspruchsentscheidung vom 20.06.2018 als unzulässig.

2

Mit seiner hiergegen gerichteten Klage machte der Kläger u.a. geltend, die Bekanntgabefiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung ([X.]) greife nicht ein, weil Zweifel am Zugang des Steuerbescheids innerhalb der [X.] bestünden. Zur Begründung verwies er u.a. auf die im Bescheid verwendete falsche Schreibweise seines Namens sowie auf ein Schreiben des [X.] vom 08.05.2018, das den Poststempel vom 11.05.2018 trage und daher nicht innerhalb von drei Tagen nach dem Bescheiddatum zugegangen sein könne.

3

Das Finanzgericht ([X.]) wies die Klage durch Urteil vom [X.] als unbegründet ab. Es war der Auffassung, dass der Kläger die Einspruchsfrist nicht gewahrt habe und der Einkommensteuerbescheid vom 20.10.2017 bestandskräftig geworden sei. Der Bescheid sei gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 [X.] am Montag, dem 23.10.2017, bekannt gegeben worden, so dass der am 01.12.2017 beim [X.] eingegangene Einspruch verfristet sei. Hinsichtlich des Zeitpunkts der Aufgabe zur Post seien die Besonderheiten maschinell erstellter Bescheide zu berücksichtigen. Bei der in den steuerlichen Massenverfahren heute überwiegend praktizierten zentralen, maschinell-elektronischen Versendung von Steuerbescheiden sei der Tag der Aufgabe zur Post regelmäßig mit dem Datum des Steuerbescheids identisch. Die Versendung geschehe vollautomatisch, ohne dass die Fehlerquelle "Mensch" zwischengeschaltet sei, so dass im Wege eines Anscheinsbeweises vom Datum des Bescheids auf den Tag der Aufgabe zur Post geschlossen werden könne.

4

Mit seiner wegen Nichtzulassung der Revision eingelegten Beschwerde macht der Kläger u.a. geltend, das [X.] habe seine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung verletzt, da es keine Feststellungen zum Tag der Aufgabe zur Post getroffen habe. Das [X.] habe darauf abgestellt, dass der Tag der Aufgabe zur Post regelmäßig mit dem Datum des Steuerbescheids identisch sei. Ob dies auch vorliegend der Fall gewesen sei, habe das [X.] nicht ermittelt. Angesichts des den ordnungsgemäßen Postversand [X.] habe das [X.] den Sachverhalt weiter aufklären müssen.

5

Das [X.] hat zu der Beschwerde keine Gegenäußerung abgegeben.

Entscheidungsgründe

II.

6

Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Der vom Kläger der Sache nach gerügte Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O) liegt vor. Denn das [X.] hat die Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 [X.]O) dadurch verletzt, dass es nicht ermittelt hat, wann der streitige Bescheid zur Post aufgegeben wurde.

7

1. Ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht liegt dann vor, wenn das [X.] keine Ermittlungen zu einem tatsächlichen Geschehen anstellt, auf das es unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung ankommt, wenn sich solche Ermittlungen dem [X.] aufdrängen mussten. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben.

8

a) Das [X.] ist in rechtlicher Hinsicht davon ausgegangen, dass die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 [X.] nur dann eingreift, wenn feststeht, wann die mit einfachem Brief übersandten Steuerbescheide tatsächlich zur Post aufgegeben worden sind (vgl. [X.]surteil vom 22.05.2002 - VIII R 53/00, [X.] 2002, 1417). Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger behauptet, den streitigen Bescheid nicht innerhalb der [X.] des § 122 Abs. 2 Nr. 1 [X.] erhalten zu haben, sofern der Bescheid tatsächlich zu dem Zeitpunkt, der auf diesem als Bescheiddatum jeweils aufgedruckt ist, zur Post aufgegeben worden sein sollte. Bestreitet ein Steuerpflichtiger nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern macht er geltend, es nicht innerhalb der [X.] erhalten zu haben, dann sind, sofern der [X.] zur Post feststeht, der Sachverhalt unter Berücksichtigung des substantiierten Vorbringens des Steuerpflichtigen über den Zugang des Schriftstücks aufzuklären und die festgestellten oder unstreitigen Umstände im Wege der freien Beweiswürdigung nach § 96 Abs. 1 [X.]O gegeneinander abzuwägen (Beschluss des [X.] --BFH-- vom 20.08.1992 - VI B 99/91, [X.] 1993, 75). Ermittlungen zum Zeitpunkt der Aufgabe des angefochtenen Bescheids zur Post waren auch nicht deshalb entbehrlich, weil in den Akten des [X.] nicht festgehalten ist. Denn eine gesetzliche Pflicht des [X.], den [X.] zur Post gesondert aufzuzeichnen, besteht --insbesondere bei Absendung durch ein Rechenzentrum-- nicht ([X.] vom [X.], [X.] 2007, 1454).

9

b) Das [X.] ist weiter in rechtlicher Hinsicht davon ausgegangen, dass bei [X.] Versendung von Steuerbescheiden im Wege eines Anscheinsbeweises vom Datum des Bescheids auf den [X.] zur Post geschlossen werden könne. Zum Beleg für seine Auffassung hat es auf die Ausführungen von [X.] in Tipke/[X.] (Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 122 [X.] Rz 50) Bezug genommen, wonach es für die Heranziehung des Anscheinsbeweises ausreicht, wenn die zentrale [X.] (z.B. das Rechenzentrum) darlegt, dass an dem im Bescheid ausgewiesenen Datum keinerlei Unregelmäßigkeiten aufgetreten sind. Der [X.] kann offenlassen, ob er sich dieser Auffassung anschließen könnte. Jedenfalls musste sich dem [X.] auf der Grundlage dieser Auffassung aufdrängen, dass es im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht gehalten war, Ermittlungen dazu anzustellen, wie im Einzelnen der Ablauf der Postversendung durch das Rechenzentrum gestaltet und in welcher Weise sichergestellt war, dass [X.] zu dem im Bescheid angegebenen Zeitpunkt auch tatsächlich zur Post aufgegeben wurden ([X.] vom 22.05.2006 - X B 190/05, [X.] 2006, 1681). An derartigen Ermittlungen fehlt es im Streitfall. Das [X.] hat insbesondere nicht festgestellt, dass bei der Versendung durch das Rechenzentrum an dem im angefochtenen Bescheid ausgewiesenen Datum keinerlei Unregelmäßigkeiten aufgetreten sind.

c) Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht aus der vom [X.] unter Verweis auf die Kommentierung von [X.] in Bezug genommenen BFH-Rechtsprechung (vgl. [X.] in Tipke/[X.], a.a.[X.], § 122 [X.] Rz 50, unter Berufung u.a. auf [X.] in [X.] 2007, 1454). Denn in dem der Entscheidung in [X.] 2007, 1454 zugrundeliegenden Fall hatte das [X.] sachverhaltsbezogene Ermittlungen dazu angestellt, wie die Postversendung durch das Rechenzentrum im konkreten Fall gestaltet war, und war auf dieser Grundlage zu dem Ergebnis gelangt, dass das durchgeführte Verfahren die Gewähr für die Übereinstimmung von maschinellem Bescheiddatum und tatsächlichem [X.] biete ([X.] in [X.] 2007, 1454, Rz 11).

2. Der erkennende [X.] hält es für angezeigt, gemäß § 116 Abs. 6 [X.]O zu verfahren, um es dem [X.] zu ermöglichen, die notwendigen Ermittlungen nachzuholen.

3. [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

VIII B 56/19

26.02.2020

Bundesfinanzhof 8. Senat

Beschluss

vorgehend Hessisches Finanzgericht, 28. Januar 2019, Az: 9 K 1027/18, Urteil

§ 76 Abs 1 FGO, § 122 Abs 2 Nr 1 AO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 26.02.2020, Az. VIII B 56/19 (REWIS RS 2020, 3474)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 3474

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