Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 17.04.2015, Az. 2 BvR 602/15

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2015, 12456

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Erlass einer einstweiligen Anordnung: Vorläufige Untersagung der Abschiebung einer somalischen Familie mit Kleinstkind nach Italien - zu der das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge treffende Verpflichtung, bei der Abschiebung von Familien mit Kleinstkindern eine konkrete und Einzelfall bezogene Zusicherung der italienischen Behörden einzuholen, dass die Familie in Italien eine gesicherte Unterkunft für alle Familienmitglieder erhalten werde.


Tenor

Dem [X.] wird einstweilen bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde untersagt, die im Bescheid des [X.] vom 13. Juni 2014 angeordnete Abschiebung der Beschwerdeführer nach [X.] zu vollziehen

Gründe

1

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

2

1. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des [X.] muss das [X.] die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu versagen wäre (vgl. [X.] 88, 25 <35>; 89, 109 <110 f.>; stRspr).

3

2. Nach vorläufiger Prüfung kann nicht festgestellt werden, dass die von den Beschwerdeführern erhobene Verfassungsbeschwerde unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist.

4

Die Beschwerdeführer rügen, den Anforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde genügend, die Versagung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes im Abänderungsverfahren gemäß § 80 Abs. 7 VwGO verstoße gegen das in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Willkürverbot (vgl. zu diesem [X.] 78, 123 <126>; 87, 273 <278 f.>; 89, 1 <13, 14>; 96, 189 <203>). Denn der Rechtsstandpunkt, den das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall eingenommen habe, sei unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt haltbar. Diese Rüge ist jedenfalls nicht offensichtlich unbegründet; ihr wird im Rahmen der Verfassungsbeschwerde nachzugehen sein.

5

Nach der Rechtsprechung des [X.]s ([X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 17. September 2014 - 2 BvR 939/14 -, NVwZ 2014, S. 1511, 2 [X.] und 2 BvR 1795/14, jeweils juris sowie 2 BvR 991/14) und des [X.] ([X.] , [X.], Urteil vom 4. November 2014, Nr. 29217/12, NVwZ 2015, [X.]) muss bei der Abschiebung von Familien mit Kleinstkindern nach [X.] vom [X.] eine konkrete und einzelfallbezogene Zusicherung der [X.] Behörden eingeholt werden, dass die Familie in [X.] eine gesicherte Unterkunft für alle Familienmitglieder erhalten werde. Dem angegriffenen Beschluss zufolge genügt es, dass das [X.] im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erklärt hat, dass es eine solche Zusicherung einholen und ohne diese eine Überstellung nicht veranlassen werde. Das [X.] könne auch ohne Überprüfung der im Einzelfall vorgelegten Zusicherung allein im Hinblick auf eine derartige vom [X.] abgegebene Erklärung zurückgewiesen werden.

6

Die Beschwerdeführer tragen demgegenüber vor, Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit sei es, in jedem konkreten Einzelfall die Rechtmäßigkeit des [X.] zu überprüfen. Dazu gehöre auch die Prüfung, ob die auf den zur Entscheidung stehenden Einzelfall bezogene Zusicherung der [X.] Behörden den Anforderungen der Rechtsprechung an eine derartige Zusicherung genüge. Insbesondere reiche es nicht aus, wenn eine Behörde pauschal behaupte, sich nach Recht und Gesetz verhalten zu wollen.

7

Dies bedarf näherer Überprüfung; der Ausgang des [X.] erweist sich damit jedenfalls als offen.

8

3. Die danach gebotene Abwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung. Den Beschwerdeführern droht durch den Vollzug der Abschiebung ein schwerer und nicht ohne weiteres wiedergutzumachender Nachteil. Demgegenüber wiegen etwaige Nachteile, die durch den auf überschaubare Zeit verlängerten Aufenthalt der Beschwerdeführer in [X.] entstehen, weniger schwer.

9

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 602/15

17.04.2015

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend VG Schwerin, 2. März 2015, Az: 5 B 1190/14 As, Beschluss

Art 6 Abs 1 GG, Art 16a Abs 1 GG, Art 16a Abs 2 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 34a AsylVfG 1992, § 25 Abs 5 AufenthG 2004, § 28 Abs 4 AufenthG 2004, § 36 Abs 2 AufenthG 2004, § 60a Abs 2 S 1 AufenthG 2004, § 60 Abs 2 AufenthG 2004, § 60 Abs 2 AufenthG 2004

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 17.04.2015, Az. 2 BvR 602/15 (REWIS RS 2015, 12456)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 12456

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