Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.01.2021, Az. 5 StR 363/20

5. Strafsenat | REWIS RS 2021, 9720

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Öffentlichkeit des Strafverfahrens: Hinderung der Teilnahme als Zuhörer aufgrund der Ausgangsbeschränkungen durch die Corona-Allgemeinverfügung


Tenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 27. März 2020 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Betruges in sechs Fällen und vorsätzlicher Insolvenzverschleppung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Im Hinblick auf eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung hat es angeordnet, dass hiervon sechs Monate als vollstreckt gelten.

2

Die auf die ausgeführte Sachrüge und Verfahrensrügen gestützte Revision des Angeklagten bleibt aus den Gründen der Antragsschrift des [X.] ohne Erfolg (§ 349 Abs. 2 [X.]). Lediglich folgende Punkte bedürfen der Ergänzung:

3

1. Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe lassen sich die Voraussetzungen der Zahlungsunfähigkeit zum 12. November 2011 zur Begründung der Insolvenzverschleppung - insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Unternehmen zu diesem Zeitpunkt fällige Forderungen nicht begleichen konnte und keine konkrete Aussicht auf die Erzielung von Einnahmen mehr hatte - noch ausreichend entnehmen, auch wenn das [X.] ergänzend auf nach dem Stichtag liegende Umstände abgestellt und aus der späteren Entwicklung auf die Zahlungsunfähigkeit rückgeschlossen hat (vgl. demgegenüber zu der erforderlichen prognostischen Beurteilung bei Feststellung der Zahlungsunfähigkeit durch die wirtschaftskriminalistische Methode [X.], Beschluss vom 21. August 2013 - 1 [X.], NJW 2014, 164, 165).

4

2. Die Revision kann mit der Verfahrensrüge der Verletzung des [X.]es (§ 169 [X.], § 338 Nr. 6 [X.]), ungeachtet der in der Antragsschrift des [X.] aufgezeigten Zulässigkeitsbedenken, nicht durchdringen. Die aufgrund der COVID-19-[X.] durch die Allgemeinverfügung des [X.] zum Vollzug des Infektionsschutzgesetzes vom 22. März 2020 angeordneten Ausgangsbeschränkungen stellen kein Verbot dar, als Zuhörer und damit als Teil der Saalöffentlichkeit an einer Hauptverhandlung teilzunehmen (ebenso [X.], Beschluss vom 17. November 2020 - 4 StR 390/20).

5

a) Der in § 169 [X.] niedergelegte [X.] als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ([X.], Beschluss vom 14. März 2012 - 2 BvR 2405/11, [X.]K 19, 352; Urteil vom 24. Januar 2001 - 1 BvR 2623/95, [X.]E 103, 44) gewährleistet, dass jedermann grundsätzlich die Möglichkeit hat, an Verhandlungen der Gerichte als Zuhörer teilzunehmen ([X.], Urteil vom 6. Oktober 1976 - 3 [X.], [X.]St 27, 13). Dadurch soll eine Kontrolle der Justiz durch die am Verfahren nicht beteiligte Öffentlichkeit - als historisch unverzichtbares Institut zur Verhinderung obrigkeitlicher Willkür - ermöglicht werden ([X.], Urteil vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10, [X.]E 133, 168, 217 f., Rn. 88; vgl. zum Ganzen [X.], in: [X.], 26. Aufl., vor § 169 [X.] Rn. 2 ff. mwN).

6

b) Das [X.] hat die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens nicht verletzt.

7

Nach Nr. 1 der [X.] Allgemeinverfügung ist lediglich das Verlassen der häuslichen Unterkunft ohne triftigen Grund untersagt. Welche Gründe triftig sind, zählt Nr. 2 auf, so in Nr. 2.9 die Wahrnehmung unaufschiebbarer Termine bei Behörden, Gerichten, Gerichtsvollziehern, Rechtsanwälten und Notaren. Durch die Formulierung „insbesondere“ wird klargestellt, dass es sich um keine abschließende Aufzählung handelt. Auch die Teilnahme an öffentlichen Gerichtsverhandlungen begründet einen triftigen Grund ([X.], Beschluss vom 17. November 2020 - 4 StR 390/20; zur fast wortgleichen [X.] Regelung [X.], [X.], 1381; ebenso [X.] in [X.], COVID-19, Rechtsfragen zur [X.], 2. Aufl., § 19 Rn. 83; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], § 20 Verfahrensrecht Rn. 60; [X.], [X.], 1183,1184; [X.], NStZ 2020, 313, 315).

8

Dies ist damit in Einklang zu bringen, dass die gesundheitspolizeilichen Maßnahmen der Allgemeinverfügung auf die Eindämmung des pandemischen Infektionsgeschehens gerichtet sind und einen Ausgleich zwischen dem Schutz vor der weiteren Ausbreitung des Corona-Virus und der Aufrechterhaltung elementarer Lebensbereiche suchen. Durch Nr. 2.9 der Allgemeinverfügung wird klargestellt, dass die Funktionstüchtigkeit der Justiz als wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaats aufrechterhalten bleiben soll. Auch das [X.] hat im Zusammenhang mit der Gefährdungslage durch die COVID-19-[X.] darauf hingewiesen, dass die Sicherung des Rechtsfriedens durch das Strafrecht in der Ausnahmesituation einer [X.] weiterhin eine wichtige Aufgabe staatlicher Gewalt bleibt ([X.], Beschluss vom 16. November 2020 - 2 BvQ 87/20, Rn. 50; ebenso SächsVerfGH, [X.], 1285, 1286). Dessen Aufrechterhaltung bedingt nicht nur die Teilnahme der unmittelbar am Gerichtsverfahren Beteiligten, sondern auch die Gewährleistung der Saalöffentlichkeit.

9

c) Ungeachtet, ob sich Interessierte durch die Ausgangsbeschränkungen von dem Besuch von Gerichtsverhandlungen haben abhalten lassen, wozu die Revision § 344 Abs. 2 Satz 2 [X.] genügenden Vortrag indes vermissen lässt, gilt Folgendes:

Selbst wenn Einzelne aufgrund der gesundheitspolizeilichen Maßnahmen auf den Besuch einer Hauptverhandlung verzichtet haben sollten, läge auch in diesem Fall keine Verletzung des [X.]es durch das Tatgericht vor. Denn ein trotz eines nicht bestehenden Teilnahmeverbots vorgenommener Verzicht Einzelner würde in diesen Fällen auf Umständen beruhen, die nicht in den Verantwortungsbereich des Gerichts fielen (vgl. [X.], [X.], 1381; [X.]/[X.], [X.], 10. Aufl., § 169 Rn. 25a; [X.], NStZ 2020, 313, 316; offen gelassen [X.], Beschluss vom 17. November 2020 - 4 StR 390/20; zur Frage des [X.] etwa [X.], Beschluss vom 7. April 2016 - 1 [X.], [X.], 245; Urteile vom 18. Dezember 1968 - 3 [X.], [X.]St 22, 297, 301 f.; vom 10. Juni 1966 - 4 StR 72/66, [X.]St 21, 72, 73; [X.], in: [X.], [X.], 26. Aufl., § 338 Rn. 113; MüKo-[X.]/[X.]/[X.], § 338 Rn. 134 ff.; KK-[X.]/Gericke, 8. Aufl., § 338 Rn. 89; jeweils mwN).

Bei einer von ihm nicht zu vertretenden Sachlage wäre das Tatgericht schließlich nicht verpflichtet, dem [X.] durch eine Unterbrechung oder eine Aussetzung noch weitergehende Wirkung zu verschaffen. Anders als im Einzelfall kurzfristiger Beschränkungen (vgl. insoweit [X.], Beschluss vom 11. Juli 1979 - 3 [X.]) kann dies insbesondere dann nicht gelten, wenn die Dauer der möglichen Einschränkungen wie bei der aktuellen [X.] nicht absehbar ist. Denn die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten, umfasst auch in Ausnahmesituationen die Pflicht, die Einleitung und Durchführung des Strafverfahrens sicherzustellen ([X.], Beschluss vom 16. November 2020 - 2 BvQ 87/20, Rn. 50; SächsVerfHG, [X.], 1285, 1286). Durch den- während des hier laufenden Strafverfahrens noch nicht geltenden - § 10 EG[X.] sollte ebenfalls nur eine Reduktion des Geschäftsbetriebs ermöglicht, aber keinesfalls ein Stillstand über möglicherweise Wochen oder Monate - in denen Angeklagte sich in Untersuchungshaft befänden, Taten verjährten etc. - herbeigeführt werden (vgl. [X.], aaO, 317).

Cirener     

        

Ri[X.] Dr. Berger ist
urlaubsbedingt an
der Unterschriftsleistung
verhindert

        

Gericke

                 

Cirener

                 
        

[X.]     

        

     von Häfen     

        

Meta

5 StR 363/20

06.01.2021

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Dresden, 27. März 2020, Az: 109 Js 36786/08 - 5 KLs

§ 169 GVG, § 1 IfSG, §§ 1 IfSG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.01.2021, Az. 5 StR 363/20 (REWIS RS 2021, 9720)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 9720

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

4 StR 390/20 (Bundesgerichtshof)

Öffentlichkeit des Strafverfahrens: Hinderung der Teilnahme als Zuschauer durch Corona-Allgemeinverfügung


2 AZN 629/21 (Bundesarbeitsgericht)

Öffentlichkeitsgrundsatz - Einschränkung zur Pandemiebekämpfung - Verzichtsmöglichkeit


6 AZN 376/16 (Bundesarbeitsgericht)

Grundsatz der Öffentlichkeit - Verlegung der Verhandlung in das Dienstzimmer des Vorsitzenden


1 J KLs 28 Js 12509/19 jug (LG München II)

Corona-Pandemie: Jugendlicher seit einem Jahr in Untersuchungshaft


4 StR 605/18 (Bundesgerichtshof)

Strafverfahren: Ausschluss der Öffentlichkeit für die Schlussvorträge; Fehlen des den Öffentlichkeitsausschluss anordnenden Gerichtsbeschlusses


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

4 StR 390/20

1 StR 665/12

2 BvR 2405/11

2 BvR 2628/10

2 BvQ 87/20

1 StR 579/15

Literatur & Presse BETA

Diese Funktion steht nur angemeldeten Nutzern zur Verfügung.

Anmelden
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.