Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 27.02.2012, Az. 1 BvR 22/12

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2012, 8801

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

POLIZEI- UND ORDNUNGSRECHT STRAFRECHT BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) STRAFTATEN POLIZEI ÜBERWACHUNG SICHERUNGSVERWAHRUNG

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Gegenstand

Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung: Längerfristige polizeilichen Observierung eines aus der Sicherungsverwahrung Entlassenen - Überwiegen der gegen einen Erlass der eA sprechenden Gründen im Rahmen der Folgenabwägung


Gründe

1

Der bei verständiger Auslegung mit einer Verfassungsbeschwerde verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung richtet sich gegen die längerfristige Observation des aus der Sicherungsverwahrung entlassenen Beschwerdeführers.

2

1. Der Beschwerdeführer wurde wegen zwei Verbrechen der Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Die später vom [X.] erklärte Sicherungsverwahrung wurde im [X.] für erledigt erklärt. Gleichzeitig mit der Entlassung des Beschwerdeführers aus der Sicherungsverwahrung am 10. September 2010 ordnete die Polizeidirektion [X.] die längerfristige Observation des Beschwerdeführers zunächst bis zum 7. Oktober 2010 an. Seither wurde die längerfristige Observation, die offen und mit "Gefährdetenansprache" durchgeführt wird, durch Anordnungen mit einer Geltungsdauer von zunächst vier, später jeweils acht Wochen weiter verlängert.

3

2. Einen Antrag des Beschwerdeführers, im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung auszusprechen, seine Observation umgehend einzustellen, lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 16. August 2011 ab. Die Beschwerde gegen den Beschluss des [X.] wies der [X.]hof mit Beschluss vom 8. November 2011 zurück.

4

Der [X.]hof ging davon aus, dass dem Beschwerdeführer kein Anordnungsanspruch zur Seite stehe. In der Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass einiges dafür spreche, dass die längerfristige Observation des Beschwerdeführers (noch) eine Rechtsgrundlage im [X.] ([X.]) finde. Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes könne offen bleiben, ob die polizeiliche Maßnahme unmittelbar auf die Regelung des § 22 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 [X.] gestützt werden könne oder ob auf die polizeiliche Generalklausel der §§ 1, 3 [X.] in Verbindung mit einer entsprechenden Anwendung der qualifizierten Tatbestandsvoraussetzungen und verfahrensrechtlichen Sicherungen des § 22 [X.] zurückgegriffen werden müsse. Denn jedenfalls entbehre die angegriffene polizeiliche Observation nicht einer gesetzlichen Grundlage. In materieller Hinsicht wurde darauf abgestellt, dass auf der Grundlage des im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigenden Vorbringens nicht mit dem erforderlichen Maß an Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, dass von dem Beschwerdeführer keine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit Dritter mehr ausgehe. Als Grundlage der Risikobewertung zog der [X.]hof neben verschiedenen Umständen in dem seit der Entlassung aus der Sicherungsverwahrung beim Beschwerdeführer beobachteten Verhalten ein noch während der Sicherungsverwahrung erstelltes psychiatrisches Gutachten vom 5. März 2010 heran, wonach bei einer Entlassung aus der Sicherungsverwahrung ohne Vorbereitung, ohne Erprobung und ohne gesicherten [X.] Empfangsraum von einer hohen Rückfallwahrscheinlichkeit auszugehen sei. Insgesamt wurde die längerfristige Observation im [X.]punkt der Entscheidung noch als verhältnismäßig angesehen.

5

3. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen seine längerfristige Observation und beantragt im Wege einstweiliger Anordnung dem Antragsgegner aufzugeben, die Bewachung des Beschwerdeführers zu unterlassen und diese gänzlich für verfassungswidrig zu erklären. Falls das Gericht per Eilentscheidung keine Abhilfe oder Klärung herbeiführen könne, werde daraus eine Verfassungsbeschwerde.

6

Die Observation sei verfassungswidrig, weil Kontrolle und Überwachung von aus der Haft Entlassenen ausschließlich Aufgabe der Strafjustiz mit Hilfe von Führungsaufsicht und Bewährungshilfe sei. Für die Notwendigkeit einer Verzahnung von Führungsaufsicht und polizeirechtlichen Maßnahmen bestehe kein Anlass. Die Maßnahmen durch die örtliche Polizei brächten keine zusätzliche Sicherheit und belasteten den Beschwerdeführer unzumutbar. Die Observation führe dazu, dass er faktisch in Isolation leben müsse. Resozialisierungsbemühungen würden behindert und Rechtsschutz erschwert, da das Verfahren nicht rechtsstaatlich ausgestaltet sei.

7

Das Gutachten, auf das sich der Beschluss des [X.]hofs stütze, sei nicht aussagekräftig, da es noch im Rahmen der Vorbereitungen für die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung entstanden sei und darauf gezielt habe, durch eine Lockerungserprobung eine weitere Prognosebasis zu schaffen. Im Übrigen habe es eine Prognosedauer von nur wenigen Monaten.

8

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, aber unbegründet.

9

1. Bei verständiger Würdigung ist das Begehren des Beschwerdeführers so auszulegen, dass er gegen die bezeichneten Entscheidungen Verfassungsbeschwerde erhoben und damit verbunden den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt hat.

2. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 [X.] ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. [X.] 87, 107 <111>; stRspr). Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf [X.] hat jedoch keinen Erfolg, wenn eine Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist (vgl. [X.] 71, 158 <161>; 111, 147 <152 f.>; stRspr). Ist die Verfassungsbeschwerde weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet, sind vielmehr die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. [X.] 71, 158 <161>; 96, 120 <128 f.>; stRspr).

3. Die erhobene Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Vielmehr wirft das vorliegende Verfahren verfassungsrechtliche Fragen auf, die nur im Hauptsacheverfahren geklärt werden können. Zu prüfen ist insbesondere, ob die von den Verwaltungsgerichten als Rechtsgrundlage für die in Frage stehende Art von Observation herangezogenen Vorschriften des Polizeigesetzes diese Maßnahmen grundsätzlich oder möglicherweise nur vorübergehend und befristet bis zur Schaffung einer eigenen Rechtsgrundlage tragen können und ob dies auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu berücksichtigen gewesen wäre. Diese Fragen können aber nicht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vor dem [X.] geklärt werden, sondern müssen der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde vorbehalten bleiben.

4. Ist die Verfassungsbeschwerde danach weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet, so ist über den Eilantrag anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese führt hier zu dem Ergebnis, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 [X.] abzulehnen ist.

Für den Antrag des Beschwerdeführers spricht im vorliegenden Fall, dass er bereits im [X.] aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurde, so dass die seitdem stattfindende Observation und die damit verbundenen Grundrechtseingriffe bereits geraume [X.] andauern, gleichzeitig das für die Gefahrprognose des [X.]hofs maßgebliche Gutachten aber noch vor seiner Entlassung entstanden ist. Andererseits weisen die angegriffenen Entscheidungen substantiierte Hinweise auf, dass von dem Beschwerdeführer möglicherweise ernsthafte Gefahren ausgehen können. Weil das [X.] dieses mangels eines aktuellen Gutachtens zur [X.] nicht näher prüfen kann, ist damit für die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz im Verfahren vor dem [X.] auch eine fortdauernde Gefährlichkeit des Beschwerdeführers und damit unter Umständen ernsthafte Gefahr für Leib und Leben Dritter im Falle der Anordnung einer sofortigen Einstellung der Observation nicht auszuschließen. Außerdem muss ein möglicher Erfolg der Verfassungsbeschwerde nicht zwangsläufig in eine umgehende Einstellung der Observation des Beschwerdeführers münden, ebenso ist eine Zurückverweisung der Sache an den [X.]hof denkbar.

Daher wiegen die Folgen für den Antragsteller, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, derzeit noch nicht so schwer, dass hier eine verfassungsgerichtliche Anordnung geboten wäre.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 22/12

27.02.2012

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Ablehnung einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 8. November 2011, Az: 1 S 2538/11, Beschluss

GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 1 PolG BW, § 3 PolG BW, § 22 Abs 1 Nr 1 PolG BW, § 22 Abs 3 PolG BW

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 27.02.2012, Az. 1 BvR 22/12 (REWIS RS 2012, 8801)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 8801

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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