Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.08.2013, Az. X R 44/11

10. Senat | REWIS RS 2013, 3399

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Gegenstand

Auslegung eines Einspruchsschreiben - Die Entscheidung wurde nachträglich zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt; sie war seit dem 13.11.2013 als NV-Entscheidung abrufbar


Leitsatz

1. Auch wenn im Rubrum eines Einspruchsschreibens ein "Bescheid über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag" genannt ist, ist der Einspruch als lediglich gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlag gerichtet anzusehen, wenn die Einspruchsbegründung ausschließlich auf Rechtsfragen in Zusammenhang mit dem Solidaritätszuschlag eingeht und das Ruhen "des Rechtsbehelfsverfahrens" wegen eines Musterprozesses zum Solidaritätszuschlag beantragt wird.

2. Der BFH darf ein Einspruchsschreiben selbst auslegen, wenn die vom FG vorgenommene Auslegung rechtsfehlerhaft ist, das FG aber alle für die Auslegung maßgebenden Umstände festgestellt hat.

Tatbestand

I.

1

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --[X.]--) erließ am 30. April 2009 gegen die zusammenveranlagten Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) einen erklärungsgemäßen "Bescheid für 2007 über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag". Am 12. Mai 2009 ging beim [X.] ein Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Kläger ein, das --nach Angabe von Steuernummer, Name und Anschrift der Kläger-- den folgenden Wortlaut hat:

2

"Bescheid für 2007 über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag vom [X.]

3

Sehr geehrte Damen und Herren,

4

gegen den Bescheid für 2007 über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag vom [X.] legen wir Einspruch ein.

5

Der Einspruch richtet sich gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags. Der [X.] hat beim [X.] Klage gegen die Erhebung des Solidaritätszuschlags eingereicht, [X.] K 143/08. Das Musterverfahren bezieht sich auf den Veranlagungszeitraum 2007.

6

Wir erklären uns damit einverstanden, dass das Rechtsbehelfsverfahren ruht bis zur höchstrichterlichen Klärung dieser Rechtsfrage."

7

Am 30. November 2009 ging beim [X.] ein weiterer Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Kläger ein, in dem es hieß, der Einspruch werde dahingehend weiter begründet, dass nunmehr erstmals negative Einkünfte des [X.] aus Gewerbebetrieb in Höhe von ./. 74.632 € geltend gemacht würden. Dabei handelte es sich um einen Investitionsabzugsbetrag für die Anschaffung einer Photovoltaikanlage.

8

Das [X.] verwarf den "Einspruch vom 30. November 2009" gegen den Einkommensteuerbescheid 2007 wegen Fristversäumnis als unzulässig. Das am 12. Mai 2009 eingegangene Schreiben sei bei sachgerechter Auslegung, die anhand des Begehrens der Kläger vorzunehmen sei, lediglich als Einspruch gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags anzusehen. Danach sei erstmals am 30. November 2009 ein Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid eingegangen. Zu diesem Zeitpunkt sei die Einspruchsfrist bereits abgelaufen gewesen.

9

Mit dem angefochtenen Urteil hob das Finanzgericht ([X.]) die Einspruchsentscheidung auf. Es führte aus, das Schreiben vom 12. Mai 2009 sei auslegungsbedürftig gewesen, weil dort einerseits alle drei Verwaltungsakte (Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag) genannt seien, sich andererseits die Begründung aber auf Ausführungen zum Solidaritätszuschlag beschränkt habe. Die danach erforderliche Auslegung des Einspruchsschreibens hätte das [X.] dahingehend vornehmen müssen, dass auch der Einkommensteuerbescheid angefochten sei. Dieser Bescheid sei nicht nur im "Betreff", sondern auch im Text des Schriftsatzes nochmals ausdrücklich erwähnt worden. Hinzu komme, dass eine Begründung des Einspruchs nicht zwingend erforderlich sei.

Mit seiner Revision verweist das [X.] in erster Linie auf das Urteil des [X.] ([X.]) vom 8. Mai 2008 VI R 12/05 ([X.]E 222, 196, [X.], 116). Danach sei bei einem auslegungsbedürftigen Einspruch gegen einen sog. Sammelbescheid die Auslegung anhand des vom Einspruchsführer dargelegten [X.] vorzunehmen. Dies habe sich hier auf die Festsetzung des Solidaritätszuschlags beschränkt, weil nur insoweit Angriffe vorgebracht worden seien.

Das [X.] beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger haben sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

Zwar hat das [X.] das Einspruchsschreiben vom 12. Mai 2009 zu Recht als auslegungsbedürftig angesehen (dazu unten 1.). Die Auslegung durch das [X.] ist aber rechtsfehlerhaft (unten 2.).

1. [X.] vom 12. Mai 2009 ist auslegungsbedürftig, weil ihr Wortlaut nicht eindeutig ist.

a) Gemäß § 357 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung ([X.]) "soll" bei der Einlegung des Rechtsbehelfs der Verwaltungsakt bezeichnet werden, gegen den der Einspruch gerichtet ist. Danach ist die Rechtswirksamkeit des eingelegten Rechtsbehelfs nicht von einer genauen Bezeichnung des angefochtenen Verwaltungsakts abhängig. Es ist jedoch erforderlich, dass sich die Zielrichtung des Begehrens aus der [X.] in der Weise ergibt, dass sich der angefochtene Verwaltungsakt entweder aus dem Inhalt der [X.] selbst ermitteln lässt oder Zweifel oder Unklarheiten am Gewollten durch Rückfragen des [X.] beseitigt werden können. Fehlt es an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung des tatsächlich Gewollten, ist der wirkliche Wille des Steuerpflichtigen durch Auslegung seiner Erklärungen zu ermitteln (zum Ganzen [X.]-Urteil in [X.], 196, [X.], 116, unter [X.], m.w.N.).

b) Anders als das [X.] in seiner Revisionsbegründung meint, ist das Schreiben vom 12. Mai 2009 auslegungsbedürftig. Daran würde es nur dann fehlen, wenn die Erklärung nach Wortlaut und Zweck einen eindeutigen Inhalt hätte ([X.]-Urteil vom 28. November 2001 I R 93/00, [X.] 2002, 613, m.w.N.). Das Einspruchsschreiben der Kläger ist aber nicht eindeutig, weil in dessen Rubrum und im ersten Absatz alle drei Verwaltungsakte genannt sind, die in dem Sammelbescheid vom 30. April 2009 enthalten waren (Einkommensteuer-, Kirchensteuer- und Solidaritätszuschlagsbescheid), während sich die nachfolgende Begründung des Einspruchs ausschließlich auf die Festsetzung des Solidaritätszuschlags bezieht.

2. Bei der danach vorzunehmenden Auslegung hat sich das [X.] rechtsfehlerhaft allein auf den Wortlaut des Rubrums und des ersten Absatzes des Einspruchsschreibens gestützt.

a) Sowohl außerprozessuale als auch prozessuale Rechtsbehelfe sind --wie das [X.] im Ausgangspunkt zutreffend erkannt hat-- in entsprechender Anwendung des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auszulegen ([X.]-Urteil vom 31. Oktober 2000 VIII R 47/98, [X.] 2001, 589, unter [X.]a, m.w.N.). Danach ist nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften, sondern der wirkliche Wille zu erforschen.

b) Nach diesen Grundsätzen erweist sich die durch das [X.] vorgenommene Auslegung als rechtsfehlerhaft. Das [X.] hat sich als an den Wortlaut des Rubrums und des ersten Absatzes des Einspruchsschreibens gebunden gesehen und nicht den [X.] Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers erkennbaren-- wirklichen Willen des Erklärenden erforscht, der sich aus der Einspruchsbegründung ergibt, die dem ersten Absatz des zitierten Schreibens nachfolgt.

Soweit das [X.] für seine Auffassung anführt, die der Begründung dienenden Passagen des Einspruchsschreibens seien für dessen Auslegung nicht heranzuziehen, weil eine Begründung gemäß § 357 Abs. 3 Satz 2 [X.] für die Erhebung eines zulässigen Einspruchs nicht erforderlich sei, verletzt dies anerkannte Auslegungsgrundsätze. Zur Erforschung des wirklichen Willens des Erklärenden sind alle Umstände heranzuziehen, die für den Erklärungsempfänger erkennbar sind. [X.] Äußerungen des Erklärenden dürfen nicht allein deshalb für die Auslegung der Erklärung außer Betracht bleiben, weil keine Rechtspflicht zur Abgabe der entsprechenden Äußerung bestand.

c) Zwar gehört die Auslegung eines Einspruchsschreibens zu den vom [X.] zu treffenden tatsächlichen Feststellungen, so dass der [X.] als Revisionsgericht die Auslegung grundsätzlich nicht selbst vornehmen darf ([X.]-Urteil in [X.], 196, [X.], 116). Vorliegend hat das [X.] jedoch sowohl den vollständigen Inhalt der Erklärung als auch die maßgebenden Begleitumstände (ergangene Verwaltungsakte) festgestellt. Weitere Feststellungen kommen ersichtlich nicht in Betracht und werden auch von den Beteiligten nicht begehrt. In solchen Fällen kann das Revisionsgericht die erforderliche Auslegung selbst vornehmen.

Eine derartige Befugnis des [X.], Erklärungen selbst auszulegen, ist bisher zwar überwiegend in Fällen bejaht worden, in denen eine notwendige Auslegung durch das [X.] --trotz Feststellung aller maßgebenden [X.] gänzlich unterblieben war (vgl. [X.]-Urteil vom 28. November 2006 VII R 3/06, [X.]E 216, 4, [X.], 575, unter II.2.). Nichts anderes kann aber gelten, wenn das [X.] --bei Feststellung aller maßgebenden [X.] eine rechtsfehlerhafte Auslegung vorgenommen hat (so auch [X.]-Urteil vom 22. November 1994 VIII R 44/92, [X.]E 176, 138, [X.] 1995, 900, unter [X.], m.w.N.). Eine solche Auslegung bindet den [X.] nicht und ist daher revisionsrechtlich ebenso wenig existent wie eine von Anfang an fehlende Auslegung.

d) Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist bei auslegungsfähigen Rechtsbehelfen davon auszugehen, dass der Steuerpflichtige denjenigen Rechtsbehelf einlegen will, der seinem materiell-rechtlichen Begehren am ehesten zum Erfolg verhilft ([X.]-Urteil vom 26. Oktober 2004 IX R 23/04, [X.] 2005, 325, unter [X.], m.w.N.).

Das materiell-rechtliche Begehren der Kläger war ausweislich der von ihnen abgegebenen, im Einspruchsschreiben enthaltenen Einspruchsbegründung (Abs. 2 des Schreibens vom 12. Mai 2009) ausschließlich auf einen Wegfall der Festsetzung des Solidaritätszuschlags gerichtet. Für dieses Begehren haben sie --unter Bezugnahme auf ein vor dem [X.] anhängiges Musterverfahren-- verfassungsrechtliche Gründe angeführt, die sich ausschließlich auf die Befugnis des Gesetzgebers zur Aufrechterhaltung des Solidaritätszuschlags, nicht aber auf die verfassungsrechtliche Legitimation anderer Steuerarten bezogen. Das Begehren der Kläger war nicht einmal andeutungsweise auf eine Änderung der Bescheide über Einkommen- oder Kirchensteuer gerichtet.

Diese Auslegung wird durch den Inhalt des dritten Absatzes des genannten Schreibens bestätigt. Darin haben die Kläger sich damit einverstanden erklärt, dass "das Rechtsbehelfsverfahren" bis zur höchstrichterlichen Klärung "dieser Rechtsfrage" ruht. Da [X.] nur für den Einspruch gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags vorgetragen worden waren, sich das Ruhen aber auf "das Rechtsbehelfsverfahren" --und nicht etwa lediglich auf ein (Teil-)Verfahren gegen den Bescheid über die Festsetzung des Solidaritätszuschlags bei gleichzeitiger Fortführung von (weiteren) Einspruchsverfahren gegen die Festsetzung der Einkommen- und [X.] erstrecken sollte, kann die Auslegung nur zum Ergebnis haben, dass "das Rechtsbehelfsverfahren" mit dem Einspruch gegen den Bescheid über die Festsetzung des Solidaritätszuschlags deckungsgleich sei.

Hinzu kommt, dass der statthafte Rechtsbehelf gegen die Kirchensteuerfestsetzung ohnehin nicht ein beim [X.] anzubringender Einspruch, sondern ein bei den nach der Steuerordnung zuständigen kirchlichen Stellen anzubringender Widerspruch gewesen wäre (vgl. § 10 Abs. 2 Sätze 1 und 2 des Kirchensteuerrahmengesetzes des [X.]). Auch dies zeigt, dass die Erwähnung von "Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag" im Rubrum und ersten Absatz des Einspruchsschreibens lediglich formelhaft erfolgt ist.

In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen hat der [X.] bereits entschieden, dass ein Einspruch, der zwar ausdrücklich gegen einen "Einkommensteuerbescheid" gerichtet werde, mit dem aber ausschließlich Einwendungen gegen die --im selben Sammelbescheid enthaltene-- Festsetzung des Kirchgelds vorgetragen werden, allein als Einspruch gegen die Festsetzung des Kirchgelds anzusehen sei ([X.]-Urteil in [X.], 196, [X.], 116).

e) Danach hat das [X.] den erstmals am 30. November 2009 eingelegten Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 2007 vom 30. April 2009 zu Recht wegen Fristversäumnis als unzulässig verworfen. Das [X.]-Urteil, das diese Einspruchsentscheidung aufgehoben hat, war seinerseits aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Meta

X R 44/11

19.08.2013

Bundesfinanzhof 10. Senat

Urteil

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 5. Juli 2011, Az: 1 K 136/10, Urteil

§ 357 Abs 3 S 1 AO, § 118 Abs 2 FGO, § 133 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.08.2013, Az. X R 44/11 (REWIS RS 2013, 3399)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 3399

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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