Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.04.2013, Az. 3 StR 35/13

3. Strafsenat | REWIS RS 2013, 6664

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Gegenstand

Beweiswürdigung im Strafverfahren: Geständnis des Angeklagten bei komplexem Sachverhalt


Tenor

Auf die [X.]visionen der Angeklagten [X.]wird das Urteil des [X.] vom 5. Januar 2012, auch soweit es die Angeklagten D.  , [X.], [X.], [X.].   , [X.], [X.].  , [X.].   , [X.], [X.].   und [X.].   betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben mit Ausnahme des Schuldspruchs bezüglich des Mitangeklagten [X.].   im Fall C. der Urteilsgründe, der in diesem Fall verhängten [X.] sowie der Einziehung des [X.].

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der [X.]chtsmittel, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat die Angeklagten [X.]und [X.], die mit den nichtrevidierenden Mitangeklagten [X.], [X.], [X.], [X.].     , [X.], [X.].  , [X.].    , [X.], [X.].     und [X.].    sowie weiteren gesondert Verfolgten unter der Bezeichnung "[X.]" ein Internetradio zur Verbreitung rechtsradikalen Gedankenguts betrieben, wegen der Beteiligung an einer kriminellen [X.] als Mitglied (Angeklagte [X.] ) bzw. wegen Unterstützung einer kriminellen [X.] in Tateinheit mit Volksverhetzung in zwei Fällen, Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (Angeklagter [X.]) zu Freiheitsstrafen verurteilt. Die nichtrevidierenden Mitangeklagten [X.], [X.], [X.] , [X.].        , [X.], [X.] und [X.].        hat es ebenfalls wegen der Beteiligung an einer kriminellen [X.] als Mitglied, die nichtrevidierenden Mitangeklagten [X.].  , [X.].    und [X.].     wegen Unterstützung einer kriminellen [X.] zu Freiheitsstrafen verurteilt. Dabei hat es - außer bei den Mitangeklagten [X.], [X.].   und [X.].    - jeweils in unterschiedlichem Maße die tateinheitliche Verwirklichung weiterer Delikte, namentlich der Volksverhetzung, des Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen, des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten, der Gewaltdarstellung, der Beleidigung, der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener und der Billigung von Straftaten angenommen sowie den Mitangeklagten [X.].     wegen eines Waffendelikts verurteilt und insoweit eine Einziehungsentscheidung getroffen.

2

Die [X.]visionen der Angeklagten [X.]  und [X.] haben mit der erhobenen Sachrüge Erfolg; auf die - nicht ausgeführte und somit unzulässige (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) - Rüge der Verletzung formellen [X.]chts kommt es deshalb nicht an. Die Aufhebung des Urteils erstreckt sich in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang auf die nichtrevidierenden Mitangeklagten.

3

I. Der Schuldspruch hat in dem aus der [X.] ersichtlichen Umfang keinen Bestand, denn die Beweiswürdigung des [X.]s genügt nicht den Mindestanforderungen, die an die richterliche Überzeugungsbildung zu stellen sind.

4

1. Das [X.] hat bei der Verurteilung der Angeklagten wegen "Beteiligung an einer kriminellen [X.] als Mitglied" bzw. "Unterstützung einer kriminellen [X.]" und eines Teils der Mitangeklagten wegen zahlreicher mitverwirklichter Äußerungs- und Propagandadelikte unter anderem Feststellungen zu 73 Liedern größtenteils rechtsradikalen Inhalts getroffen, deren textliche Wiedergabe - teilweise in [X.] Übersetzung der [X.] Originalfassung - über 35 Urteilsseiten umfasst. Es hat weiter bei einem [X.]oßteil der Angeklagten über einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahr mit minutengenauer Darstellung der Spielzeiten eine Vielzahl von über das "W.   -Radio" gesendeten Liedern und Äußerungen der Angeklagten nach Datum und Uhrzeit festgestellt. Im Rahmen der Beweiswürdigung hat es lediglich ausgeführt, die getroffenen Feststellungen beruhten "auf den glaubhaften geständigen Einlassungen der Angeklagten in der [X.]uptverhandlung, den verlesenen [X.]gisterauszügen und den glaubhaften Bekundungen der Zeugen [X.] Sch.   und [X.], die insbesondere über den Gang des Ermittlungsverfahrens berichtet haben."

5

2. Diese Ausführungen belegen, dass die [X.] sich ihre Überzeugung von der Täterschaft der Angeklagten auf unzureichender Basis verschafft hat, was der Senat auch allein auf die Sachrüge zu berücksichtigen hat. Im Einzelnen:

6

a) Aus dem verfassungsrechtlich verankerten [X.] folgt im [X.] Strafprozessrecht die Verpflichtung der Gerichte, von Amts wegen den wahren Sachverhalt - die materielle Wahrheit - zu erforschen (§244 Abs. 2 StPO, vgl. zuletzt [X.], Urteil vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11, [X.], 1058). Diese Pflicht bestimmt den Umfang der Beweisaufnahme in der [X.]uptverhandlung. Die Würdigung der Beweise (§ 261 StPO) bildet wiederum die [X.]undlage für den Schuldspruch und die Festsetzung der entsprechenden [X.]chtsfolgen. Die Amtsaufklärungspflicht darf - schon wegen der Gesetzesbindung des Richters (Art. 20 Abs. 3 GG) - nicht dem Interesse an einer einfachen und schnellstmöglichen Erledigung des Verfahrens geopfert und kann nicht zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts gestellt werden ([X.] aaO).

7

Es ist daher unzulässig, dem Urteil einen Sachverhalt zu [X.]unde zu legen, der nicht auf einer Überzeugungsbildung unter vollständiger Ausschöpfung des [X.] beruht. Dies gilt auch dann, wenn sich der Angeklagte - unter Umständen aufgrund einer Verständigung - geständig gezeigt hat. Zwar unterfällt auch die Bewertung eines Geständnisses dem [X.]undsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung. Das Tatgericht muss aber, will es die Verurteilung des Angeklagten auf dessen Einlassung stützen, von deren Richtigkeit überzeugt sein ([X.], Urteil vom 10. Juni 1998 - 2 [X.], [X.]R StPO § 261 Überzeugungsbildung 31). Es ist deshalb stets zu untersuchen, ob das abgelegte Geständnis mit dem Ermittlungsergebnis zu vereinbaren ist, ob es in sich stimmig ist und ob es die getroffenen Feststellungen trägt (st. Rspr.; vgl. zuletzt [X.], Beschluss vom 7. Februar 2012 - 3 [X.], [X.], 256). Die Beschränkung der Beweiswürdigung im Wesentlichen auf den bloßen Hinweis, der Angeklagte sei geständig gewesen, genügt insbesondere dann nicht, wenn aufgrund der Komplexität und der zahlreichen Details des festgestellten Sachverhalts Zweifel bestehen können, dass der Angeklagte an das Tatgeschehen eine auch in den Einzelheiten genügende Erinnerung hat ([X.], Beschlüsse vom 7. Februar 2012 - 3 [X.], [X.], 256 f. und vom 5. Dezember 1995 - 4 StR 698/95, [X.], 214, 215).

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b) Nach diesen Maßstäben ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft, denn das [X.] hat es ausweislich der Urteilsgründe unterlassen, die Geständnisse der Angeklagten einer näheren Überprüfung zu unterziehen. Damit beruht seine Überzeugung nicht auf einer tragfähigen [X.]undlage. Insbesondere mit Blick auf die jeweils genauen Texte einer großen Zahl teilweise fremdsprachiger Lieder sowie die Frage, welcher Angeklagte genau bei welcher Moderation welche Lieder zu Gehör brachte, liegt es auf der [X.]nd, dass die Angeklagten sich insoweit nicht an die exakten Einzelheiten des zudem einige Zeit zurückliegenden Geschehens erinnern konnten.

9

Dass die Angeklagte [X.]nur wegen der Beteiligung an der kriminellen [X.] als Mitglied und der Angeklagte [X.] neben der Unterstützung der kriminellen [X.] lediglich wegen des Abspielens zweier inkriminierter Lieder verurteilt worden ist, führt zu keiner anderen Beurteilung: Der Inhalt der Lieder und die Häufigkeit sowie der Zeitraum, über den sie von allen Moderatoren des "W.   -Radio" gespielt wurden, bestimmten hier nicht nur die für den Schuldumfang maßgeblichen strafbaren [X.]ndlungen der kriminellen [X.], sondern waren auch für die Feststellung, dass es sich überhaupt um eine kriminelle [X.] handelte, unverzichtbar.

3. Die Aufhebung des Schuldspruchs wirkt gemäß § 357 StPO auch zugunsten der nichtrevidierenden Mitangeklagten [X.], [X.], [X.], [X.].   , [X.], [X.].   , [X.].   , [X.], [X.].   und [X.].   , soweit sie wegen der nämlichen Tat, die sich hier nach der Mitgliedschaft an bzw. der Unterstützung derselben kriminellen [X.] bestimmt, verurteilt worden sind. Bezüglich des Mitangeklagten [X.].   erstreckt sich die Aufhebung indessen nicht auf die Verurteilung im Fall C. der Urteilsgründe, die nicht die nämliche Tat im Sinne des § 357 StPO betrifft.

Dass sich die Anforderungen an die Urteilsgründe hinsichtlich der nichtrevidierenden Mitangeklagten nur nach dem Maßstab des § 267 Abs. 4 StPO bestimmen, steht der Notwendigkeit der Erstreckung nicht entgegen, denn es handelt sich hier nicht nur um einen bloßen Erörterungsmangel. Vielmehr ist das [X.] aufgrund einer unzureichenden Beweiswürdigung zu einer Verurteilung sämtlicher Angeklagter gelangt. Von der Verpflichtung des Tatgerichts, seine Überzeugung auf eine tragfähige [X.]undlage zu stützen, vermag aber auch § 267 Abs. 4 StPO, der nur Darstellungspflichten betrifft, nicht zu befreien ([X.], Beschluss vom 7. Februar 2012 - 3 [X.], juris Rn. 8 mwN).

II. Die Aufhebung des Schuldspruchs zieht für die Angeklagten [X.] und [X.] sowie die Mitangeklagten [X.], [X.], [X.], [X.].  , [X.], [X.].   , [X.].   , [X.], [X.].   und [X.].     die Aufhebung auch des [X.]chtsfolgenausspruchs nach sich. Für den Mitangeklagten [X.].   bleibt es allerdings bei der im Fall C. der Urteilsgründe verhängten [X.] und der auf dieser Tat beruhenden Einziehungsentscheidung.

III. Für die neue [X.]uptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

1. Nach den bisherigen Feststellungen war die Mitangeklagte [X.]neben anderen gesondert Verfolgten Mitbegründerin des "W.   -Radio" und beteiligte sich unmittelbar im [X.] daran in der Folgezeit als Mitglied an der [X.]. Sollte sich dies erneut bestätigen, stünde die [X.]ündung, die im Verhältnis zur Beteiligung als Mitglied einen selbständigen Unrechtsgehalt aufweist, zu der mitgliedschaftlichen Betätigung in Tateinheit und wäre nicht nur bei der Bewertung des Schuldumfangs im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen. Vielmehr gebietet es das Erfordernis der [X.]chtsklarheit in diesem Fall, bereits im Schuldspruch zu verdeutlichen, dass über die mitgliedschaftliche Beteiligung hinaus eine weitere, eigenständige Tathandlung des § 129 Abs. 1 StGB verwirklicht wurde (vgl. [X.], Urteil vom 3. Dezember 2009 - 3 [X.], [X.]St 54, 216, 235).

2. Sollte das neue Tatgericht im Rahmen der [X.]uptverhandlung erneut das Senden von Liedern und Äußerungen feststellen, wird es - eingehender als bisher - jedes Lied und jede Äußerung, die es zur [X.]undlage des Schuld- und Strafausspruchs macht, unter Beachtung der [X.]chtsprechung des [X.]ndesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. insbesondere [X.], Beschlüsse vom 25. März 2008 - 1 BvR 1753/03, [X.], 2907; vom 15. September 2008 - 1 BvR 1565/05, [X.], 908) und des [X.]ndesgerichtshofs (vgl. [X.], Urteil vom 3. April 2008 - 3 [X.], juris) daraufhin zu untersuchen haben, ob hierdurch Äußerungs- und Propagandadelikte verwirklicht worden sind (vgl. [X.], Beschluss vom 7. Februar 2012 - 3 [X.], [X.], 256, 257).

Tolksdorf                             Hubert                           Schäfer

                      Gericke                           Spaniol

Meta

3 StR 35/13

15.04.2013

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Koblenz, 5. Januar 2012, Az: 12 KLs 2090 Js 334/11

§ 244 Abs 2 StPO, § 261 StPO, § 267 StPO, § 129 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.04.2013, Az. 3 StR 35/13 (REWIS RS 2013, 6664)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 6664

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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