Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.06.2010, Az. V ZB 93/10

5. Zivilsenat | REWIS RS 2010, 5747

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Gegenstand

Abschiebungshaft: Erforderliche Beteiligung der Staatsanwaltschaft bei Anhängigkeit eines Straf- oder Ermittlungsverfahrens gegen den abzuschiebenden Ausländer


Leitsatz

Die Anordnung der Haft eines Ausländers, gegen den ein Straf- oder Ermittlungsverfahren anhängig ist, zur Sicherung der Abschiebung scheidet aus, solange die Staatsanwaltschaft der beabsichtigten Abschiebung nicht zugestimmt hat .

Tenor

Dem Betroffenen wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren Verfahrenskostenhilfe bewilligt. Ihm wird Rechtsanwalt [X.] beigeordnet.

Auf die Rechtsmittel des Betroffenen werden der Beschluss der 3. Zivilkammer des [X.] vom 2. März 2010 und der Beschluss des [X.] vom 26. Februar 2010 aufgehoben.

Der Antrag auf Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen wird zurückgewiesen.

Die [X.] trägt die gerichtlichen Kosten des Verfahrens und die außergerichtlichen Kosten des Betroffenen.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene ist [X.] Staatsangehöriger. Er reiste seit 1992 mehrfach nach [X.] ein und wurde wiederholt ab- beziehungsweise zurückgeschoben. Nach seiner letzten Einreise wurde er am 19. März 2006 festgenommen. Das [X.] verhängte gegen ihn im September 2007 eine Freiheitsstrafe, die er bis zum 4. März 2010 verbüßte. Die von der beteiligten Behörde erstrebte Abschiebung des Betroffenen aus der Strafhaft scheiterte an dem Fehlen des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft.

2

Gegen den Betroffenen wird ein weiteres Strafverfahren geführt. Aufgrund eines in diesem Verfahren am 11. Januar 2010 ergangenen Haftbefehls befindet sich der Betroffene seit der Verbüßung seiner Strafe in Untersuchungshaft. Im Hinblick auf seine weiterhin angestrebte Abschiebung erklärte die Staatsanwaltschaft, bei einer Aufhebung des [X.] in Erwägung zu ziehen, nach § 154b Abs. 3 StPO vorzugehen.

3

Daraufhin beantragte die beteiligte Behörde, den Betroffenen zur Sicherung der Abschiebung zu inhaftieren. Das Amtsgericht hat dem Antrag stattgegeben und am 26. Februar 2010 die Haft des Betroffenen für die Dauer von einem Monat, beginnend mit der Beendigung der Strafhaft und der Untersuchungshaft des Betroffenen, längstens jedoch bis zum 25. August 2010, angeordnet. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde hat das [X.] zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er die Aufhebung der Haftanordnung erstrebt.

II.

4

Das Beschwerdegericht meint, der Betroffene sei aufgrund seiner unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig. Dass er sich der Abschiebung nicht entziehen werde, habe er nicht glaubhaft gemacht. Die Anordnung der Haft sei auch nicht unverhältnismäßig, weil davon auszugehen sei, dass die Abschiebung des Betroffenen innerhalb eines Monats nach dessen Entlassung aus der Untersuchungshaft durchgeführt werden könne. Das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] zu der Abschiebung des Betroffenen erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft sei in deren Ankündigung zu sehen, im Falle der Aufhebung des [X.] ein Vorgehen nach § 154b Abs. 3 StPO zu erwägen.

III.

5

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist zulässig und begründet.

6

Der Erlass eines Haftbefehls zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers, gegen den öffentliche Klage erhoben worden ist oder gegen den ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, scheidet aus, solange die Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen hierzu nicht erklärt hat. So liegt es hier.

7

1. Ist gegen einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer ein Ermittlungs- oder Strafverfahren eingeleitet, treten das Interesse an der Durchführung des Strafverfahrens und das Interesse an der schleunigen Ausreise bzw. der Abschiebung des Ausländers zueinander in Widerspruch. Nach der in § 72 Abs. 4 [X.] zum Ausdruck kommenden Wertung gebührt dem Interesse an der Strafverfolgung der Vorrang. Die Abschiebung darf nur im Einvernehmen mit der ermittelnden bzw. der Staatsanwaltschaft erfolgen, die gegen den Ausländer Anklage erhoben hat. Das "Einvernehmen" der Staatsanwaltschaft ist gegeben, wenn diese der Abschiebung des Betroffenen zugestimmt hat ([X.]/[X.], § 72 [X.]. 30).

8

Der Vorrang des [X.] hat umgekehrt zur Folge, dass die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung des Ausländers ausscheidet, solange die Staatsanwaltschaft der von der Ausländerbehörde beabsichtigten Abschiebung nicht zugestimmt hat (vgl. [X.] [X.] 2001, 130; [X.] 2003, 157; [X.] 2006, 188; [X.] 2006, 27). Weil eine Abschiebung nicht erfolgen darf, ist für ihre Sicherung durch eine Inhaftierung des Betroffenen kein Raum.

9

Das zur Abschiebung notwendige Einvernehmen der Staatsanwaltschaft bedeutet kein zeitweiliges Abschiebungshindernis, das ein ausreisepflichtiger Ausländer in den Grenzen von § 62 Abs. 2, 3 [X.] hinzunehmen hat. Ein derartiges Hindernis bilden nur Umstände, die von den [X.] Behörden nicht beherrscht werden. So liegt es bei dem Ausstehen des zur Abschiebung eines Ausländers, gegen den ein Straf- oder Ermittlungsverfahren anhängig ist, notwendigen Einvernehmens der Staatsanwaltschaft nicht (a.M. [X.] [X.] 2001, 130; [X.] 2003, 157). Die Erteilung des Einvernehmens bedeutet vielmehr eine Entscheidung, die die Staatanwaltschaft nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen hat. Wird das Einvernehmen erteilt, tritt das Interesse an der Strafverfolgung des Betroffenen hinter das Interesse an dessen Abschiebung zurück. Wird die Zustimmung verweigert, scheidet die Abschiebung des Betroffenen bis zur Beendigung der gegen diesen laufenden Ermittlungen bzw. des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens aus.

2. Dass die Staatsanwaltschaft im Falle der Aufhebung der Untersuchungshaft des Betroffenen "erwägt, nach § 154 Abs. 3 StPO vorzugehen", bedeutet, wie die Rechtsbeschwerde zutreffend geltend macht, weder, dass die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung zur Abschiebung des Betroffenen erklärt hat, noch ist diese Feststellung mit dem Inhalt des [X.] zu vereinbaren, nach welchem seitens der Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Betroffenen erhoben worden ist.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG, 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 [X.] entspricht es billigem Ermessen, die Beteiligte zu 2 zu Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten.

Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 KostO.

Krüger                                       Klein                                 Lemke

                  Schmidt-Räntsch                            [X.]

Meta

V ZB 93/10

17.06.2010

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Kassel , 2. März 2010, Az: 3 T 160/10, Beschluss

§ 72 Abs 4 AufenthG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.06.2010, Az. V ZB 93/10 (REWIS RS 2010, 5747)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 5747

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