Bundessozialgericht, Beschluss vom 26.01.2021, Az. B 9 V 26/20 B

9. Senat | REWIS RS 2021, 9209

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Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache - soziales Entschädigungsrecht - Gewaltopfer - miterlebter Suizid - vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff - feindselige Willensrichtung - Strafrechtsakzessorietät - Straflosigkeit der Selbsttötung - psychische Gewalt - fehlende körperliche Einwirkung - sozialgerichtliches Verfahren - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss - irreführende Anhörungsmitteilung - rechtliches Gehör - Darlegungsanforderungen


Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des [X.] vom 4. Mai 2020 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

I. Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem [X.] ([X.]) wegen körperlicher Misshandlungen durch ihren zweiten Ehemann und seinen anschließenden Selbstmord in ihrer Anwesenheit.

2

Der Beklagte lehnte den Anspruch wegen Unbilligkeit iS von § 2 OEG ab (Bescheid vom [X.] in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.10.2013).

3

Das [X.] hat den Beklagten verurteilt, im Einzelnen bezeichnete Gesundheitsstörungen wie eine Trigeminusneuralgie und Knochennarben als Schädigungsfolgen festzustellen und dafür Heilbehandlung zu gewähren. [X.] hat es dagegen die Klage auf Feststellung einer schweren psychischen Dauerschädigung als Schädigungsfolge sowie auf Gewährung von Rentenleistungen nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von wenigstens 40 (Urteil vom 18.11.2019).

4

Mit Beschluss vom 4.5.2020 hat das L[X.] die Berufung zurückgewiesen. Lediglich die mehrfachen körperlichen Misshandlungen der Klägerin durch ihren verstorbenen Ehemann stellten vorsätzliche, rechtswidrige Gewalttaten dar. Psychische Schädigungsfolgen ließen sich insoweit aber nicht abgrenzen. Die anatomischen Folgen der Schläge bedingten keinen relevanten [X.] Der Suizid des verstorbenen Ehemanns sei kein vorsätzlicher rechtswidriger Angriff im Sinne des OEG.

5

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum B[X.] eingelegt. Die Frage, ob ein Selbstmord ein Angriff iS von § 1 OEG sein könne, bedürfe grundsätzlicher Klärung. Zudem habe das L[X.] Verfahrensfehler begangen.

6

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil weder die behaupteten Verfahrensmängel (zu 1.), noch eine grundsätzliche Bedeutung (zu 2.) ordnungsgemäß dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G).

7

1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 [X.] 3 Halbsatz 1 [X.]G), so müssen bei der Bezeichnung dieses [X.] (§ 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G) zunächst substantiiert die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen dargetan werden. Daran fehlt es hier.

8

a) Die Klägerin rügt, das L[X.] habe nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen, weil seine Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 Satz 2 [X.]G irreführend gewesen sei. Indes teilt sie bereits den genauen Inhalt dieser Mitteilung nicht mit. Der [X.] kann sich deshalb nicht, wie es erforderlich wäre, allein auf der Grundlage der Beschwerdebegründung ein abschließendes Urteil über die Verfahrensrüge bilden. Ohnehin braucht die Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 Satz 2 [X.]G keine Angaben über die Gründe der beabsichtigten Entscheidung und der zugrunde liegenden Beweiswürdigung zu enthalten ([X.]sbeschluss vom [X.] - [X.] SB 71/19 B - juris Rd[X.] 15; B[X.] Beschluss vom [X.] - B 5 R 386/07 B - juris Rd[X.] 29).

9

b) Die Klägerin kritisiert darüber hinaus, das L[X.] habe sich nicht mit ihren Einwendungen gegen Person, Verfahren und Ergebnis der Begutachtung durch den Sachverständigen [X.] auseinandergesetzt. Indes hat sie diese Einwendungen wiederum nicht im Einzelnen mitgeteilt; ein Verweis auf die Ausführungen der Berufungsbegründung genügt dafür nicht.

Zudem wendet die Klägerin sich mit dieser Rüge und mit dem Vorwurf, das L[X.] habe ihre Angaben zur Unverträglichkeit von Medikamenten "ohne jeden sachlichen Anhaltspunkt" als Schutzbehauptung angesehen, gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts. Diese entzieht § 160 Abs 2 [X.] 3 Halbsatz 2 [X.]G indes vollständig der Beurteilung durch das Revisionsgericht. [X.] der darin enthaltenen ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung kann die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts mit der Nichtzulassungsbeschwerde weder unmittelbar noch mittelbar angegriffen werden ([X.]sbeschluss vom 8.5.2017 - [X.] V 78/16 B - juris Rd[X.] 15 mwN).

In dieser Hinsicht hat die Beschwerde auch keine Verletzung rechtlichen Gehörs dargelegt. Art 103 Abs 1 GG schützt nicht davor, dass ein Gericht die Rechtsansicht eines Beteiligten nicht teilt ([X.] Beschluss vom 4.9.2008 - 2 BvR 2162/07 ua - juris Rd[X.] 13 mwN). Entgegen der Ansicht der Beschwerde ergibt sich aus Art 103 Abs 1 GG in der Regel keine Pflicht des Tatsachengerichts, auf die beabsichtigte Würdigung der medizinischen Befunde und Beweisergebnisse hinzuweisen (vgl [X.]sbeschluss vom [X.] [X.] SB 66/14 B - juris Rd[X.] 7 mwN). Die Beschwerde legt nicht substantiiert dar, warum die Beweiswürdigung des L[X.] überraschend gewesen sein sollte und das Gericht deshalb ausnahmsweise doch zu einem rechtlichen Hinweis verpflichtet haben könnte.

c) Soweit die Beschwerde dem L[X.] vorwirft, es habe ohne ausreichende Tatsachengrundlage entschieden, scheint sie einen Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz nach § 103 [X.]G rügen zu wollen. Um mit dieser Rüge durchzudringen, hätte sie indes einen substantiierten, vom L[X.] übergangenen Beweisantrag bezeichnen müssen (vgl [X.]sbeschluss vom [X.] - [X.] SB 4/20 B - juris Rd[X.] 10 mwN). Das hat sie versäumt.

2. Ebenso wenig dargelegt hat die Beschwerde die behauptete grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 [X.] 1 [X.]G. Diese kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen B[X.] Beschluss vom 25.10.2016 - [X.] ÜG 24/16 B - juris Rd[X.] 7 mwN).

Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn sie höchstrichterlich weder tragend entschieden noch präjudiziert ist und die Antwort nicht von vornherein praktisch außer Zweifel steht, so gut wie unbestritten ist oder sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Um die Klärungsbedürftigkeit ordnungsgemäß darzulegen, muss sich der Beschwerdeführer daher ua mit Wortlaut, Kontext und ggf der Entstehungsgeschichte des einschlägigen Gesetzes sowie der dazu ergangenen Rechtsprechung auseinandersetzen ([X.]sbeschluss vom 21.8.2017 - [X.] SB 11/17 B - juris Rd[X.] 8 mwN).

Diese Anforderungen verfehlt die Beschwerdebegründung. Die Klägerin hält es für klärungsbedürftig, ob der in Anwesenheit eines [X.] durchgeführte Suizid - insbesondere unter den besonderen Umständen ihres Falles - die Voraussetzungen des § 1 OEG erfüllen kann. Allerdings hat es die Beschwerdebegründung versäumt, sich ausreichend mit der Rechtsprechung des [X.]s zum Begriff des vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG auseinanderzusetzen, auf die das Berufungsgericht seine Entscheidung zutreffend gestützt hat. Ein solcher Angriff setzt - über den natürlichen Vorsatz des [X.] bezogen auf die [X.] hinaus - eine "feindselige Willensrichtung" voraus. Für diese ist nicht die innere Einstellung des [X.] maßgebend, sondern die Rechtsfeindlichkeit des [X.], die vor allem als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz verstanden wird (vgl zuletzt nur [X.]surteil vom 15.12.2016 - [X.] V 3/15 R - B[X.]E 122, 218 = [X.]-3800 § 1 [X.] 23, Rd[X.] 23). Die einem Angriff innewohnende Feindseligkeit manifestiert sich maßgeblich durch die vorsätzliche Verwirklichung der Straftat ([X.]surteil vom 7.4.2011 - [X.] [X.] - B[X.]E 108, 97 = [X.]-3800 § 1 [X.] 18, Rd[X.] 52 mwN). Ohne das so im Sinne von [X.] verstandene Merkmal der Rechtsfeindlichkeit würden im Opferentschädigungsrecht [X.] drohen und die für die Bewertung des [X.] maßgebende normative Grenze ihre klaren Konturen verlieren ([X.]surteil vom 7.4.2011 - [X.] [X.] - B[X.]E 108, 97 = [X.]-3800 § 1 [X.] 18, Rd[X.] 64).

Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung hätte die Beschwerde sich damit auseinandersetzen müssen, dass Selbstmord nach [X.] Recht straflos ist, wie das Berufungsgericht zu Recht im Einzelnen ausgeführt hat. Die Beschwerde hätte daher darlegen müssen, warum der Ehemann der Klägerin mit seinem straflosen Selbstmord trotzdem zugleich einen rechtswidrigen Angriff iS von § 1 Abs 1 Satz 1 OEG auf sie hätte verüben können.

Unabhängig davon fehlt es an einer hinreichenden Auseinandersetzung mit dem Tatbestandsmerkmal einer gewaltsamen Einwirkung, wie sie ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG nach der Rechtsprechung des [X.]s beinhaltet. Allein die seelische Wirkung einer (Straf)-Tat auf das Opfer ohne Einsatz körperlicher Mittel kann das Erfordernis des tätlichen - im Sinne eines körperlichen - Angriffs mittels gewaltsamer Einwirkung nicht erfüllen oder ersetzen ([X.]surteil vom 16.12.2014 - [X.] V 1/13 R - B[X.]E 118, 63 = [X.]-3800 § 1 [X.] 21 Rd[X.] 25). Mit dieser Rechtsprechung setzt sich die Beschwerde ebenfalls nicht substantiiert auseinander; daher legt sie keinen erneuten oder fortbestehenden Klärungsbedarf dar. Allein ihr Appell, den Gewaltbegriff "zu überdenken", weil auch tiefgreifende seelische Traumata körperliche Folgen hätten, genügt insoweit nicht (vgl [X.]surteil vom 16.12.2014, aaO).

Von einer weiteren Begründung sieht der [X.] ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 [X.]G).

3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung [X.] zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 [X.]G).

4. [X.] beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 [X.]G.

Meta

B 9 V 26/20 B

26.01.2021

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: V

vorgehend SG Köln, 18. November 2019, Az: S 5 VG 60/13, Urteil

§ 1 Abs 1 S 1 OEG, StGB, § 62 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a SGG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 26.01.2021, Az. B 9 V 26/20 B (REWIS RS 2021, 9209)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 9209

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