Bundesgerichtshof, Urteil vom 05.04.2023, Az. 6 StR 517/22

6. Strafsenat | REWIS RS 2023, 2110

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Gegenstand

Berücksichtigung der alkoholbedingten Enthemmung bei der Strafrahmenwahl zu Gunsten des Angeklagten sowie bei der anschließenden Strafrahmenverschiebung


Tenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 8. Juli 2022 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und festgestellt, dass das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert wurde. Die auf den Strafausspruch beschränkte und auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

I.

2

1. Nach den Feststellungen näherte sich der Nebenkläger auf einer Tanzfläche wiederholt der Zeugin [X.], der damaligen Verlobten des Angeklagten, wobei er sie körperlich berührte und sich auch nicht durch [X.] der Zeugin davon abbringen ließ. Darüber geriet der Angeklagte in Wut. Er stürmte auf den Nebenkläger zu, ergriff ihn am Hals und brachte ihn, während er ihn von der Tanzfläche schob, zu Boden. Während der Nebenkläger versuchte, sich aufzurichten, trat ihm der Angeklagte mit dem beschuhten Fuß wuchtig gegen die rechte Gesichtshälfte. Da der Nebenkläger bewusstlos zur Seite kippte, verfehlte ihn der zweite kräftige Tritt des Angeklagten. Obgleich mehrere Personen versuchten, den Angeklagten von dem wehrlos am Boden Liegenden fernzuhalten, gelangen dem Angeklagten vier weitere gezielte Tritte von oben gegen den Kopf des [X.], bevor der Zeuge [X.]den Angeklagten endgültig wegdrängen konnte. Bei den wuchtigen Stampftritten gegen den Kopf des [X.] handelte der Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz. Er war aufgrund einer Alkoholintoxikation zur Tatzeit in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt.

3

2. Die [X.] hat die Tat als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gewertet. Sie hat unter Berücksichtigung des gesetzlich vertypten [X.] gemäß § 23 StGB einen minder schweren Fall des Totschlags im Sinne von § 213 Alt. 2 StGB angenommen und in ihre Erwägungen unter anderem die alkoholbedingte Enthemmung des Angeklagten sowie die lange Verfahrensdauer eingestellt. Sodann hat sie den Strafrahmen nach den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB herabgesetzt und im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne „die erhebliche Verfahrensdauer, die einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung entspricht, maßgeblich und mit besonders hoher Gewichtung in die strafmildernde Bewertung einbezogen“. Hierzu hat sie ergänzend ausgeführt, dass die „erhebliche Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung“ gewährt werde, damit die Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung verbleibe. Das Strafverfahren sei von Anfang 2018 bis Ende 2021 rechtsstaatswidrig verzögert worden.

II.

4

Die vom [X.] vertretene Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.

5

1. Sie ist wirksam auf den Strafausspruch beschränkt und erfasst daher nicht die vom Strafausspruch unabhängige (vgl. [X.], Urteile vom 9. August 2016 – 1 [X.] und vom 27. August 2009 – 3 [X.], [X.]St 54, 135, 138) Kompensationsentscheidung.

6

2. [X.] und die konkrete Strafzumessung halten revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand.

7

a) Zutreffend wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die [X.]. Zwar hat das [X.] rechtsfehlerfrei eine alkoholbedingte Enthemmung des Angeklagten strafmildernd in seine Erwägungen zum Vorliegen eines minder schweren Falls des Totschlags (§ 213 Alt. 2 StGB) eingestellt. Indessen liegen die Voraussetzungen für eine weitere Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB nicht vor (§ 50 StGB; vgl. [X.], Urteil vom 22. August 2001 – 5 [X.], [X.], 642). Das [X.] hat nicht erkennbar bedacht, dass die bereits bei der [X.] zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigte alkoholbedingte Enthemmung nur dann zu einer anschließenden Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB führen kann, wenn die zur Bejahung des § 21 StGB herangezogenen Umstände insoweit noch weiter reichen als diejenigen, die zur Annahme des minder schweren Falls geführt haben (vgl. [X.], Urteil vom 19. Juni 1987 – 2 [X.], [X.]R StGB § 50 Mehrfachmilderung 2). Dies lässt sich den Urteilsgründen, wonach die erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten gemäß § 21 StGB allein aus seiner Alkoholintoxikation zur Tatzeit resultierte, nicht entnehmen.

8

b) Der Strafausspruch kann auch deshalb nicht bestehen bleiben, weil das [X.] bei der Strafzumessung eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zum Vorteil des Angeklagten berücksichtigt hat.

9

aa) Anders als die mit einer langen Verfahrensdauer verbundene Belastung des Angeklagten (vgl. [X.], Beschluss vom 12. Juni 2017 – [X.], [X.]St 62, 184, 192; LK-StGB/[X.], 13. Aufl., § 46 Rn. 237) stellt die konventionswidrig lange Verfahrensdauer keinen selbstständigen Strafmilderungsgrund dar (vgl. [X.], Beschluss vom 17. Januar 2008 – [X.], [X.]St 52, 124, 141; Urteil vom 27. August 2009 – 3 [X.], aaO; MüKo-StGB/[X.], 4. Aufl., § 46 Rn. 425; [X.]/[X.]/[X.], Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 770; [X.] in [X.]/[X.], StGB, 30. Aufl., § 46 Rn. 57e). Sie scheidet sowohl bei der [X.] als auch bei der Strafzumessung im engeren Sinn als bedeutsamer Umstand aus; im Rahmen der Prüfung einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) kommt ihr ebenfalls keine Bedeutung zu (vgl. [X.]/[X.]/[X.], aaO).

bb) Das [X.] hat jedoch die lange Verfahrensdauer als „rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung“ gewertet und als solche zu Gunsten des Angeklagten sowohl bei der Bestimmung des Strafrahmens als auch im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt. Es ist nicht ersichtlich, dass die [X.] den Umstand des konventions- und rechtsstaatswidrigen Verhaltens der Strafverfolgungsbehörden aus der für die Strafzumessung herangezogenen erheblichen Verfahrensdauer herausgelöst und insoweit unbeachtet gelassen hat. Dagegen spricht die ausdrückliche Gleichsetzung von erheblicher Verfahrensdauer und rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung im Urteil.

c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass die [X.] ohne die aufgezeigten Rechtsfehler auf eine höhere Freiheitsstrafe erkannt hätte.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist er auf das Folgende hin: Sollte das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht wiederum annehmen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung aufgrund der Alkoholisierung erheblich vermindert war (§ 21 StGB), wird es zu berücksichtigen haben, dass dem alkoholbedingt enthemmten Angeklagten die [X.] nur nach dem Maß seiner geminderten Schuld straferschwerend angelastet werden darf (vgl. [X.], Beschluss vom 22. Februar 2023 – 6 StR 35/23 mwN).

[X.]     

      

Feilcke     

      

Tiemann

      

Fritsche     

      

von [X.]     

      

Meta

6 StR 517/22

05.04.2023

Bundesgerichtshof 6. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Cottbus, 8. Juli 2022, Az: 21 Ks 4/17

§ 21 StGB, § 46 StGB, § 49 Abs 1 StGB, § 50 StGB, § 56 StGB, § 213 Alt 2 StGB, Art 6 Abs 1 S 1 MRK

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 05.04.2023, Az. 6 StR 517/22 (REWIS RS 2023, 2110)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 2110

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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6 StR 35/23

1 StR 121/16

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