Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.10.2011, Az. B 9 VJ 8/10 B

9. Senat | REWIS RS 2011, 2585

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Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - erstmals in der mündlichen Verhandlung erteilte rechtliche Hinweise - Antrag auf Einräumung einer Frist zur Stellungnahme - Zurückverweisung


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 11. November 2010 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Feststellung von Gesundheitsstörungen als Impfschaden im Sinne des [X.] ([X.]) bzw des Infektionsschutzgesetzes ([X.]) infolge einer am [X.] durchgeführten [X.].

2

Das beklagte Land lehnte die Feststellung eines Impfschadens ab, weil kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der [X.] und den geltend gemachten Gesundheitsschäden bestehe (Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom [X.]). Das [X.] ([X.]) hat die dagegen erhobene Klage nach Einholung eines ärztlichen Gutachtens ebenfalls wegen fehlender Kausalität abgewiesen (Urteil vom 8.11.2006).

3

Das [X.] (L[X.]) hat auf Antrag der Klägerin ein weiteres Gutachten eingeholt, das [X.] die Frage der Kausalität zwischen Impfung und geltend gemachten Gesundheitsstörungen beurteilen sollte. Sein die Berufung zurückweisendes Urteil vom 11.11.2010 hat das L[X.] nach entsprechendem Hinweis in der mündlichen Verhandlung darauf gestützt, dass es bereits an einer öffentlich empfohlenen Schutzimpfung im Sinne des § 51 Abs 1 Satz 1 [X.] bzw § 60 Abs 1 Satz 1 [X.] fehle: Am [X.] sei die Verwendung des [X.] im [X.] nicht mehr öffentlich empfohlen gewesen. Hinsichtlich der Impfmodalitäten sei nicht die [X.] im [X.], sondern allein die [X.] durch das [X.] im [X.] maßgebend. Dort sei bereits am [X.] hervorgehoben worden, dass nur noch inaktivierter Polioimpfstoff ([X.]) empfohlen werde. Am 17.4.1998 sei in dem Bulletin die von der [X.] ([X.]) am 25.3.1998 verabschiedete Impfempfehlung veröffentlicht worden.

4

Das beklagte Land habe auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Rechtsscheinshaftung einzustehen. Denn es bestehe keine generelle Pflicht des beklagten [X.], die Ärzteschaft über eine Änderung der Empfehlungen des [X.]s zu informieren. Es gebe auch keinen Anhalt dafür, dass das beklagte Land seine Pflicht, fehlerhaftem Verhalten entgegenzuwirken, verletzt habe. Weder sei vorgetragen, dass der die Klägerin impfende Arzt sie dahingehend beraten habe, dass es sich um eine öffentlich empfohlene Impfung gehandelt habe, noch sei ersichtlich, dass das beklagte Land Anlass zur Annahme gehabt habe, es werde von dem betreffenden Arzt oder der Ärzteschaft generell von der Empfehlung der [X.] abgewichen.

5

Es habe auch keine Veranlassung bestanden, der Klägerin die beantragte, weitere Vortragsfrist einzuräumen, denn diese habe durchgängig die Ansicht vertreten, es habe sich um eine nicht öffentlich empfohlene Impfung gehandelt. Dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin seien auch die Urteile des Bundessozialgerichts (B[X.]) zur Rechtsscheinshaftung bekannt gewesen, sodass ausreichend Gelegenheit bestanden habe, zu den danach maßgeblichen Voraussetzungen der Rechtsscheinshaftung vorzutragen.

6

Die Klägerin hat gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Urteil des L[X.] beim B[X.] Beschwerde eingelegt, die sie mit dem Vorliegen einer Divergenz (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G) und eines [X.] (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G), nämlich einer Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 [X.]G), begründet.

7

II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil ist unter Verstoß des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör (§ 62 [X.]G) ergangen. Das L[X.] wäre verpflichtet gewesen, ihr die beantragte Frist zur Stellungnahme einzuräumen. Dieser von der Klägerin schlüssig gerügte Verfahrensmangel führt nach § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]G zur Aufhebung des Urteils des L[X.] und zur Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht.

8

a) Die Klägerin hat den Gehörsverstoß (§ 62 [X.]G) ordnungsgemäß dargetan (§ 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G).

9

Sie macht in der Beschwerdebegründung geltend: Das L[X.] hätte ihrem in der mündlichen Verhandlung am 11.11.2010 gestellten Antrag, ihr eine Frist zur Stellungnahme von vier Wochen einzuräumen, entsprechen müssen. Vor der mündlichen Verhandlung habe sie nicht damit rechnen können, dass das L[X.] nicht von einer öffentlich empfohlenen Impfung ausgehen werde und deshalb nur eine Rechtsscheinshaftung des beklagten [X.] in Betracht komme. Diese Auffassung hätten bis dahin weder das beklagte Land noch das [X.] vertreten. Auch die Berichterstatterin des L[X.] sei in ihrer Beweisanordnung davon ausgegangen, dass die am [X.] durchgeführte Poliomyelitis-Schutzimpfung zu diesem Zeitpunkt im [X.] noch empfohlen gewesen sei. Zudem hätte sich eine medizinische Sachaufklärung erübrigt, wenn man die in der mündlichen Verhandlung erstmals geäußerte Rechtsauffassung des L[X.] als zutreffend unterstelle. Sie habe vor diesem Zeitpunkt auch nicht damit rechnen können, dass das L[X.] zur Frage der Rechtsscheinshaftung weiteren Sachvortrag für erforderlich halten werde. Das L[X.] hätte deshalb keine Entscheidung treffen dürfen, ohne ihr zuvor die Möglichkeit einer fundierten Stellungnahme zur Rechtsscheinshaftung zu ermöglichen. Hätte ihr das L[X.] diese Möglichkeit eingeräumt, hätte sie vorgetragen, dass sie seitens des Impfarztes auf die öffentliche Empfehlung hingewiesen worden sei und sie dieser Hinweis veranlasst habe, die Impfung zu dulden. Dieser vom Impfarzt begründete Rechtsschein sei dem beklagten Land zuzurechnen, da der Arzt insoweit eine öffentliche Aufgabe wahrnehme. Dies ergebe sich auch aus der Rechtsprechung des B[X.]. Aufgrund dieses ergänzenden Vortrags wäre das L[X.] möglicherweise zu einer für sie günstigeren Entscheidung gelangt.

Diese Ausführungen reichen aus, um eine Verletzung des § 62 [X.]G schlüssig zu begründen.

b) Der von der Klägerin gerügte Verfahrensmangel einer unzureichenden Gewährung rechtlichen Gehörs liegt auch vor. Das L[X.] hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (§ 62 [X.]G) dadurch verletzt, dass es deren in der mündlichen Verhandlung am 11.11.2010 gestellten Antrag nicht gefolgt ist, ihr eine Frist zur Stellungnahme zu den (in der mündlichen Verhandlung erstmals) erteilten Hinweisen einzuräumen, "es sei eine nicht empfohlene Impfung durchgeführt worden" sowie "ein Entschädigungsanspruch könne allenfalls vor dem Hintergrund der in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannten Haftung aufgrund einer Duldung nicht empfohlener Impfungen bestehen". Damit hat es der Klägerin keine hinreichende Gelegenheit zur Äußerung zu einem das Berufungsurteil tragenden rechtlichen Gesichtspunkt gegeben, mit dessen Entscheidungserheblichkeit die Beteiligten nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht rechnen mussten.

Der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör vor Gericht (§ 62 [X.]G; Art 103 Abs 1 GG) gewährleistet [X.] die hinreichende Möglichkeit, sich vor Erlass einer Entscheidung mindestens schriftlich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zur Sache zu äußern (vgl [X.] 84, 188, 190; 89, 28, 35; 101, 106, 129; B[X.]E 68, 205, 210 f = [X.] 3-2200 § 667 [X.] f). Er soll [X.] verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (§ 128 Abs 2 [X.]G). Die Beteiligten müssen ausreichend Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen erhalten. Dazu muss ihnen eine angemessene Frist eingeräumt werden (vgl B[X.] [X.] 3-1500 § 62 [X.]; B[X.] [X.] 3-1500 § 128 [X.]; B[X.] [X.] 4-1500 § 62 [X.] Rd[X.] 6).

Dies gilt auch für den [X.], in der das Sach- und Streitverhältnis mit den Beteiligten zu erörtern ist (§ 112 Abs 2 [X.]G). In der mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten zwar Gelegenheit, sich zum gesamten Streitstoff zu äußern. Nimmt der Rechtsstreit in der mündlichen Verhandlung jedoch eine unerwartete Wendung, etwa dadurch, dass das Gericht - ohne vorangegangenen Hinweis - den Beteiligten mit einer geänderten Rechtsauffassung gegenübertritt (vgl etwa B[X.] [X.] 3-4100 § 103 [X.]; B[X.] Urteil vom 12.4.2000 - B 9 VH 1/99 R - [X.] 2000, 2227; B[X.] [X.] 4-1500 § 62 [X.] Rd[X.] 6), muss vom Gericht, um [X.] zu verhindern, sichergestellt werden, dass sich die Beteiligten sachgemäß zum Prozessstoff äußern können. In solchen Fällen hat das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs Vorrang vor der in § 106 Abs 2 [X.]G verankerten Pflicht, den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen. Gibt ein Beteiligter zu erkennen, dass er außer Stande ist, sich in der mündlichen Verhandlung ohne weiteren Rat sachgemäß zu erstmals eingeführten Tatsachen, [X.] oder rechtlichen Gesichtspunkten, die möglicherweise für die Sachentscheidung erheblich sind, zu äußern, so ist ihm auf Antrag eine angemessene Frist zur Stellungnahme einzuräumen, falls nicht offensichtlich ist, dass er den Antrag missbräuchlich stellt (vgl B[X.] [X.] 4-1500 § 62 [X.] Rd[X.] 6).

Im vorliegenden Fall hatte die Klägerin nicht ausreichend Zeit, sich mit den vom L[X.] erstmals in der mündlichen Verhandlung am 11.11.2010 als entscheidungserheblich bezeichneten Gesichtspunkten einer nicht (mehr) öffentlich empfohlenen Impfung im Sinne des § 51 Abs 1 Satz 1 [X.] bzw § 60 Abs 1 Satz 1 [X.] sowie eines Entschädigungsanspruchs aufgrund des Rechtsscheins einer öffentlichen Impfempfehlung vertraut zu machen und sich dazu sachgemäß zu äußern.

Zutreffend hat die Klägerin in der Beschwerdebegründung darauf hingewiesen, dass bis zur mündlichen Verhandlung am 11.11.2010 weder das beklagte Land, noch das [X.] oder das L[X.] die Rechtsauffassung vertreten haben, bei der am [X.] durchgeführten [X.] habe es sich um eine nicht (mehr) öffentlich empfohlene Impfung gehandelt; ein Entschädigungsanspruch komme deshalb nur nach den Grundsätzen der Rechtsscheinshaftung in Betracht.

Bis zur mündlichen Verhandlung am 11.11.2010 stellt sich der Verfahrensablauf wie folgt dar:

Das beklagte Land hat seine ablehnende Entscheidung (Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom [X.]) allein darauf gestützt, dass kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Impfung und den von der Klägerin geltend gemachten Gesundheitsstörungen bestünde. Mit der fehlenden Kausalität zwischen der [X.] und der geltend gemachten gesundheitlichen Schädigung hat auch das [X.], insbesondere gestützt auf ein Gutachten des Sachverständigen [X.] vom 22.5.2006, sein die Klage abweisendes Urteil vom 8.11.2006 begründet. Dieser Sachverständige hatte allerdings bereits darauf hingewiesen, dass die orale Impfung am [X.] nicht mehr die von der [X.] empfohlene Impfung war.

Im Berufungsverfahren hat das beklagte Land mit Schriftsatz vom 17.10.2007 weiterhin die Auffassung vertreten, dass es sich bei den von der Klägerin geltend gemachten Gesundheitsstörungen nicht um eine Polio-Impfkomplikation handle. Dabei hat es sich auf ein Gutachten des Arztes für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin Prof. Dr. S. vom 21.8.2007 gestützt, der davon ausging, dass die Impfung zum Zeitpunkt ihrer Durchführung am [X.] nicht nur zulässig, sondern im [X.] auch noch öffentlich empfohlen gewesen sei.

Die damalige Berichterstatterin des L[X.] hat die Beteiligten mit Schreiben vom 26.10.2007 gebeten, im Hinblick auf die Anmerkung des Sachverständigen [X.] ergänzend mitzuteilen, welche Impfung von der zuständigen [X.]behörde zum Zeitpunkt der Impfung öffentlich empfohlen war. Das beklagte Land hat in seiner Antwort vom 12.12.2007/12.2.2008 unter Hinweis auf die [X.] im [X.] vom [X.] an seiner Auffassung festgehalten, dass es sich bei der Impfung gegen Poliomyelitis um eine öffentlich empfohlene Schutzimpfung gehandelt habe; der verwendete Impfstoff Polio-Vaccinol/[X.] sei zugelassen gewesen. Demgegenüber hat die Klägerin in ihrer Stellungnahme vom [X.] unter Hinweis auf die [X.]en im Epidemischen Bulletin und ein Schreiben des [X.] vom 15.12.2003 die Meinung vertreten, dass die [X.] seit April 1998 grundsätzlich nur noch Impfungen mit [X.] empfohlen habe.

Die damalige Berichterstatterin ist nachfolgend sowohl in dem an die von der Klägerin nach § 109 [X.]G benannte Sachverständige Frau Prof. Dr. D. gerichteten Schreiben vom 21.5.2008 als auch in der Vorbemerkung der nachfolgenden Beweisanordnung vom 27.10.2008 davon ausgegangen, dass die am [X.] durchgeführte [X.] zu diesem Zeitpunkt im [X.] noch öffentlich empfohlen war. Dementsprechend hat sich das im August 2010 beim L[X.] eingegangene ärztliche Gutachten von Frau Prof. Dr. D. mit der Beweisfrage befasst, welche Gesundheitsstörungen mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die am [X.] durchgeführte Impfung zurückzuführen seien. Auch in seiner zum Gutachten von Prof. Dr. D. abgegebenen Stellungnahme vom [X.], die allerdings erst am 8.11.2010 dem L[X.] vorgelegt worden ist, hat Prof. Dr. S. noch die Auffassung vertreten, dass die Impfung bei der Klägerin am [X.] mit dem Schluckimpfstoff öffentlich empfohlen und indiziert gewesen sei.

Im Hinblick auf diesen Verfahrensgang konnte die Klägerin bis dahin davon ausgehen, dass sich das L[X.] der Auffassung des beklagten [X.] angeschlossen hatte und deshalb ihrerseits Ausführungen zur Rechtsscheinshaftung nicht erforderlich waren.

Erst in der mündlichen Verhandlung am 11.11.2010 hat der Vorsitzende des 13. [X.]s des L[X.] die Beteiligten darauf hingewiesen, dass vorliegend eine nicht empfohlene Impfung durchgeführt worden sei, weil maßgeblich die [X.] der [X.] sei. Vor diesem Hintergrund könne allenfalls ein Entschädigungsanspruch aufgrund einer Duldung nicht empfohlener Impfungen bestehen. Das L[X.] ist damit den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung mit einer geänderten, entscheidungserheblichen Rechtsauffassung gegenüber getreten, denn diese Hinweise betreffen die Frage, ob überhaupt ein schädigendes Ereignis im Sinne des [X.] bzw des [X.] vorliegt, während bis dahin vom beklagten Land, vom [X.] und auch vom L[X.] die Frage der Kausalität zwischen schädigendem Ereignis und geltend gemachten Gesundheitsstörungen als entscheidungserheblich angesehen wurde. Der Rechtsstreit hat demnach in der mündlichen Verhandlung eine überraschende Wendung genommen, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Prozessverlauf, insbesondere im Hinblick auf das Schreiben der damaligen Berichterstatterin vom 21.5.2008 sowie deren Beweisanordnung vom 27.10.2008, nicht zu rechnen brauchten. Darüber hinaus haben die vom L[X.] angesprochenen neuen Gesichtspunkte eine besondere Schwierigkeit. Mithin konnte von der anwaltlich vertretenen Klägerin nicht erwartet werden, dazu unmittelbar in der mündlichen Verhandlung abschließend Stellung zu nehmen.

Das L[X.] hätte deshalb, bevor es abschließend eine Entscheidung verkündet und begründet, in der es sowohl das Vorliegen einer öffentlich empfohlenen Impfung als auch eine Rechtsscheinshaftung des beklagten [X.] verneint, der Klägerin Gelegenheit geben müssen, sich sachgemäß vor allem zu den schwierigen rechtlichen Gesichtspunkten der Rechtsscheinshaftung zu äußern, indem es der Klägerin die beantragte Frist von vier Wochen zur ergänzenden Stellungnahme einräumte und aus erheblichen Gründen die Verhandlung nach § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO iVm § 202 [X.]G vertagte (vgl hierzu B[X.] [X.] 4-1500 § 62 [X.] Rd[X.] 8). Da das L[X.] von dieser gebotenen Verfahrensweise keinen Gebrauch gemacht hat, sondern unmittelbar nach der mündlichen Verhandlung beraten und zu Lasten der Klägerin entschieden hat, fehlt es an einer hinreichenden Gewährung rechtlichen Gehörs.

Auf dieser Verletzung kann das mit der Beschwerde angefochtene Urteil des L[X.] auch beruhen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Klägerin in ihrer Stellungnahme tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte, insbesondere zur Rechtsscheinshaftung, aufgezeigt hätte, die das L[X.] möglicherweise zunächst ggf zu weiterer Sachverhaltsermittlung und danach zu einer für die Klägerin günstigeren Entscheidung hätten veranlassen können. Gerade bei dem hier relevanten Übergang von einer empfohlenen zu einer nicht mehr empfohlenen Impfung sind die Voraussetzungen einer Rechtsscheinshaftung besonders sorgfältig zu prüfen (vgl dazu B[X.] [X.] 4-3851 § 60 [X.]).

Nach § 160a Abs 5 [X.]G kann das B[X.] in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil des L[X.] aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliegen. Der [X.] macht im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit Gebrauch, denn der weiter geltend gemachte Zulassungsgrund des Vorliegens einer Divergenz (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G) führt schon deshalb nicht zur Zulassung der Revision, weil er nicht ordnungsgemäß begründet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G).

Zur formgerechten Rüge einer Divergenz ist in der Beschwerdebegründung die Entscheidung, von der das L[X.] abweichen soll, zumindest so zu bezeichnen, dass sie ohne Schwierigkeiten auffindbar ist. Ferner ist deutlich zu machen, worin eine Abweichung zu sehen sein soll. Der Beschwerdeführer muss darlegen, zu welcher konkreten Rechtsfrage eine die Berufungsentscheidung tragende Abweichung in deren rechtlichen Ausführungen enthalten sein soll. Er muss einen abstrakten Rechtssatz der vorinstanzlichen Entscheidung und einen abstrakten Rechtssatz aus dem höchstrichterlichen Urteil so bezeichnen, dass die Divergenz erkennbar ist. Es reicht dagegen nicht aus, auf eine bestimmte höchstrichterliche Entscheidung mit der Behauptung hinzuweisen, das angegriffene Urteil weiche hiervon ab. Schließlich ist darzulegen, dass die berufungsgerichtliche Entscheidung auf der gerügten Divergenz beruhe (vgl B[X.] [X.] 1500 § 160a [X.]4, 21, 29).

Diese Begründungserfordernisse hat die Klägerin nicht ausreichend berücksichtigt, insbesondere hat sie nicht genügend deutlich gemacht, dass das L[X.] mit einem abstrakten Rechtssatz von einem abstrakten Rechtssatz im dem Urteil des B[X.] vom [X.] VJ 1/08 R - [X.] 4-3851 § 60 [X.] abgewichen ist. Mit ihren Ausführungen, das L[X.] sei von den (von ihr dargestellten) Rechtssätzen des B[X.] dadurch abgewichen, dass es ausgeführt habe, eine Überwachungsverpflichtung (der zuständigen Behörde) bestehe nur insoweit, als einem ständigen und längere Zeit andauernden fehlerhaften Verhalten entgegenzuwirken sei, macht sie letztlich nur geltend, dass das L[X.] die in dem vorgenannten Urteil des B[X.] aufgestellten Grundsätze zur Haftung nach [X.] im konkreten Fall nicht beachtet habe. Mit ihrem Vorbringen rügt sie demnach im [X.] eine unzutreffende Rechtsanwendung, auf die eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gestützt werden kann (vgl B[X.] [X.] 1500 § 160a [X.] 7 S 10).

Das L[X.] wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.

Meta

B 9 VJ 8/10 B

06.10.2011

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: VJ

vorgehend SG Berlin, 8. November 2006, Az: S 42 VJ 46/01, Urteil

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.10.2011, Az. B 9 VJ 8/10 B (REWIS RS 2011, 2585)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 2585

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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