Bundesgerichtshof, Urteil vom 30.11.2010, Az. VI ZR 15/10

6. Zivilsenat | REWIS RS 2010, 929

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Gegenstand

Anscheinsbeweis bei Verkehrsunfall: Auffahrunfall beim Verlassen der Autobahn


Leitsatz

Zum Anscheinsbeweis bei einem Auffahrunfall beim Verlassen der Autobahn .

Tenor

Die Revision der Klägerin und der Widerbeklagten gegen das Urteil der 6. Zivilkammer des [X.] vom 8. Januar 2010 wird zurückgewiesen.

Von den Kosten des Revisionsverfahrens tragen die Klägerin 3/5 und die Widerbeklagten zu 1 und 2 als Gesamtschuldner 2/5.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Parteien machen mit Klage und Widerklage wechselseitig Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 5. November 2008 auf der Ausfahrt einer Bundesautobahn ereignet hat. Der Beklagte zu 1 befuhr mit dem Fahrzeug des [X.], einem [X.], der bei der [X.] zu 2 haftpflichtversichert ist, die Autobahn und wechselte an der Ausfahrt auf den Verzögerungsstreifen, um dort die Autobahn zu verlassen. Der [X.] zu 1 befand sich mit dem Fahrzeug der Klägerin, einem [X.], der bei der [X.]n zu 2 haftpflichtversichert ist, zunächst hinter dem [X.] zu 1, überholte diesen jedoch im weiteren Verlauf, wobei der konkrete zeitliche Ablauf zwischen den Parteien streitig ist. In der lang gezogenen Ausfahrt bremste der [X.] zu 1 den [X.] dann plötzlich bis zum Stillstand ab, wobei der Beklagte zu 1 nicht mehr rechtzeitig zu reagieren vermochte und mit dem [X.] auf das Fahrzeug der Klägerin auffuhr. Hierdurch wurde der [X.] hinten rechts und der [X.] vorne links beschädigt. Die Klägerin und die [X.]n haben behauptet, der [X.] zu 1 habe mit dem [X.] den [X.] bereits 300 m vor der Ausfahrt überholt. Der spätere Unfall habe hiermit in keinem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang gestanden. Die [X.] und die Widerkläger haben behauptet, der Verkehrsunfall sei dadurch verursacht worden, dass der [X.] zu 1 mit dem [X.], der ihn zuvor überholt habe, unvermittelt wieder auf die rechte Spur vor den vom [X.] zu 1 geführten [X.] gewechselt sei.

2

Das Amtsgericht hat der Klage und der Widerklage jeweils zur Hälfte stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Die Berufung der Klägerin und der [X.]n hatte lediglich hinsichtlich des [X.] teilweise Erfolg. Im Übrigen hat das [X.] die Berufung zurückgewiesen. Es hat die Revision im Hinblick auf die in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstrittene Frage der Anwendbarkeit der Grundsätze des Anscheinsbeweises bei Auffahrunfällen zugelassen. Mit ihrer Revision verfolgen die Klägerin und die [X.]n ihr Klage- bzw. Klageabweisungsbegehren weiter, soweit das Berufungsgericht zu ihrem Nachteil entschieden hat.

Entscheidungsgründe

I.

3

Das Berufungsgericht hat sich gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die Feststellungen des Amtsgerichts gebunden gesehen, welches nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme den von der Beklagtenseite behaupteten Spurwechsel für ebenso wahrscheinlich hielt, wie den von der Klägerseite behaupteten Unfallhergang. Gegen den Beklagten zu 1 spreche insbesondere nicht der Beweis des ersten Anscheins. Allein das Kerngeschehen eines Heckanstoßes als solches reiche als Grundlage eines Anscheinsbeweises dann nicht aus, wenn weitere Umstände des [X.] bekannt seien, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprächen. Im Fall eines unstreitig oder erwiesenermaßen unmittelbar zuvor erfolgten Spurwechsels des [X.]n spreche der Beweis des ersten Anscheins nicht gegen den [X.], sondern vielmehr dafür, dass der vorausfahrende Verkehrsteilnehmer unter Verstoß gegen § 7 Abs. 5 [X.] die Fahrspur gewechselt habe. In der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte sei umstritten, ob ein (behaupteter) vorheriger Spurwechsel des [X.]n schon die Typizität des Auffahrunfalls in Frage stelle oder lediglich auf der nachfolgenden Stufe den Anscheinsbeweis erschüttere. Dabei verdiene die Auffassung den Vorzug, wonach der [X.] bei einem Fahrstreifenwechsel für die Unfallschäden mithafte, wenn er nicht vortragen und notfalls beweisen könne, dass er so lange im gleichgerichteten Verkehr spurgleich vorausgefahren sei, dass der [X.] zum Aufbau des erforderlichen Sicherheitsabstandes in der Lage gewesen sei. Zumindest dann, wenn der Auffahrende nachvollziehbar und widerspruchsfrei darlege, dass der [X.] unmittelbar vor der Kollision die Spur gewechselt und hierdurch den Unfall verursacht habe, sei nicht mehr von einem typischen Geschehensablauf auszugehen. Andernfalls stehe derjenige, der grob verkehrswidrig die Fahrspur wechsle, prozessual besser als der Auffahrende, der in entsprechenden Fällen stets den Spurwechsel des [X.]n beweisen müsse. Das erstinstanzlich bindend festgestellte "non liquet" rechtfertige daher die angenommene hälftige Haftungsverteilung.

II.

4

Das Berufungsurteil hält im Ergebnis revisionsrechtlicher Nachprüfung stand.

5

1. In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird zum Teil bei Auffahrunfällen auf der Autobahn bereits ein Anscheinsbeweis für das Verschulden des [X.] verneint und - in der Regel - eine hälftige Schadensteilung angenommen, wenn vor dem Auffahren ein Fahrspurwechsel stattgefunden hat, aber streitig und nicht aufklärbar ist, ob die Fahrspur unmittelbar vor dem Anstoß gewechselt worden ist und sich dies unfallursächlich ausgewirkt hat (vgl. etwa [X.], Urteil vom 4. September 2009 - 10 U 3291/09, juris, Rn. 21; KG, Beschluss vom 14. Mai 2007 - 12 U 195/06, [X.], 198, 199 und Urteil vom 21. November 2005 - 12 U 214/04, [X.], 374, 375; [X.], Urteil vom 8. März 2004 - 1 U 97/03, juris, 2. Orientierungssatz, Rn. 10, 19; [X.], Urteil vom 8. Dezember 1997 - 6 U 103/97, [X.] 1998, 712, 713 und [X.], Urteil vom 26. November 1981 - 5 U 79/81, [X.], 960 f.). Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass der Zusammenstoß mit einem vorausfahrenden Fahrzeug nur dann das typische Gepräge eines Auffahrunfalls trage, der nach der Lebenserfahrung den Schluss auf zu schnelles Fahren, mangelnde Aufmerksamkeit und/oder einen unzureichenden Sicherheitsabstand des [X.]es zulasse, wenn feststehe, dass sich das vorausfahrende Fahrzeug schon "eine gewisse Zeit" vor dem nachfolgenden PKW befunden und diesem die Möglichkeit gegeben habe, einen ausreichenden Sicherheitsabstand aufzubauen (vgl. etwa [X.], Urteil vom 21. April 1989 - 10 U 3383/88, [X.], 438).

6

2. Ein anderer Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung vertritt die Auffassung, dass nur die seitens des [X.] bewiesene ernsthafte Möglichkeit, dass das vorausfahrende Fahrzeug in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Auffahrunfall in die Fahrbahn des [X.] gewechselt sei, den Anscheinsbeweis erschüttern könne (vgl. etwa [X.], Urteile vom 19. Mai 2009 - 4 U 347/08, [X.], 556, 557 f. und vom 19. Juli 2005 - 9 U 290/04, [X.] 2006, 329; [X.], Urteil vom 30. Juli 2008 - 1 U 19/08, [X.] 2009, 175 und [X.], Urteil vom 29. Juni 2004 - 9 U 176/03, [X.] 2005, 127; ebenso wohl auch [X.], Urteil vom 6. Juni 2008 - 10 U 72/07, [X.], 618, 620; [X.], Urteil vom 24. Juni 2008 - 1 U 5/08, [X.] 2009, 66, 67; [X.], Urteil vom 2. März 2006 - 3 U 220/05, [X.], 668, 669 und [X.], Urteil vom 3. August 1992 - 12 U 798/91, [X.], 28). Zeige das Unfallgeschehen das typische Gepräge eines Auffahrunfalls, so könne sich der Unfallgegner nicht mit der bloßen Behauptung der lediglich theoretischen Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs entlasten mit der Folge, dass es nunmehr Sache des [X.]n sei, den theoretisch in Betracht kommenden Unfallverlauf im Sinne einer beweisrechtlichen "Vorleistung" auszuschließen (vgl. [X.], Urteil vom 19. Juli 2005 - 4 [X.], 31/05, juris, Rn. 2; KG, Beschluss vom 9. Oktober 2008 - 12 U 168/08, [X.], 458 459). Vielmehr müssen sich nach dieser Ansicht aus den unstreitigen oder bewiesenen Umständen zumindest konkrete Anhaltspunkte und Indizien für den unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen dem behaupteten Fahrspurwechsel und dem Auffahrunfall ergeben, um den gegen den [X.] sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern (vgl. [X.], Urteil vom 29. Juni 2004 - 9 U 176/03, aaO). Auch nach der im Schrifttum überwiegend vertretenen Auffassung greift der Anscheinsbeweis bei Auffahrunfällen nur dann nicht zu Lasten des [X.] ein, wenn aufgrund erwiesener Tatsachen feststeht oder unstreitig ist, dass der Fahrstreifenwechsel des [X.]n erst wenige Augenblicke vor dem Auffahrunfall erfolgt ist (vgl. Burmann in Burmann/[X.]/[X.]/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 4 [X.] Rn. 24; Buschbell in [X.] [X.] Straßenverkehrsrecht, 3. Aufl., § 23 Rn. 284; [X.] in [X.]/[X.]/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 4 [X.] Rn. 18 und [X.] in [X.], [X.], 25. Aufl., [X.]. 27, Rn. 149).

7

3. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 18. Oktober 1988 - [X.], [X.], 54, 55 an seiner bis dahin ergangenen Rechtsprechung festgehalten, dass bei Unfällen durch Auffahren, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, grundsätzlich der erste Anschein für ein Verschulden des [X.] sprechen kann (vgl. etwa Senatsurteile vom 6. April 1982 - [X.]/80, [X.], 672 und vom 23. Juni 1987 - [X.], [X.], 1241). Dies setzt allerdings nach allgemeinen Grundsätzen voraus, dass ein typischer Geschehensablauf feststeht (vgl. etwa Senatsurteil vom 19. Januar 2010 - [X.], [X.], 392 m.w.N.). Hieran fehlt es im Streitfall.

8

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der [X.] zu 1 nach eigenen Angaben mit dem [X.] den vor ihm fahrenden, vom Beklagten zu 1 geführten [X.] ca. 300 m vor der Ausfahrt, an der beide Unfallbeteiligten die Autobahn verlassen haben, überholt und ist danach vor diesem auf dessen Fahrspur gewechselt. Nach § 7 Abs. 5 [X.] darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies setzt u. a. voraus, dass der überholte Kraftfahrer nach dem Wiedereinscheren des ihn überholenden Fahrzeuges in der Lage ist, zu diesem einen ausreichenden Sicherheitsabstand im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 [X.] aufzubauen, was im Streitfall offen geblieben ist. Ein Anscheinsbeweis spricht hierfür nicht. Steht mithin lediglich fest, dass sich der Auffahrunfall in zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit einem Überholvorgang kurz vor der Ausfahrt einer Autobahn ereignet hat, an der beide Verkehrsteilnehmer die Autobahn verlassen haben, liegt eine Verkehrssituation vor, die sich von derjenigen, die den Schluss auf ein Verschulden des [X.] zulässt, grundlegend unterscheidet (vgl. Senatsurteil vom 6. April 1982 - [X.]/80, [X.], 672). Darüber hinaus lag nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ein Schräganstoß vor, bei dem der [X.] hinten rechts und der [X.] vorne links beschädigt wurde. In einer solchen Situation gilt nicht mehr der Erfahrungssatz, dass der Auffahrende diesen Unfall infolge zu hoher Geschwindigkeit, Unaufmerksamkeit und/oder unzureichendem Sicherheitsabstand verschuldet hat. Mindestens ebenso nahe liegt der Schluss, dass der Überholende zuvor gegen die hohen Sorgfaltsanforderungen des § 7 Abs. 5 [X.] verstoßen und sich im Bereich der Ausfahrt in einem so geringen Abstand vor das überholte Fahrzeug gesetzt hat, dass der Sicherheitsabstand vom [X.] nicht mehr rechtzeitig vergrößert werden konnte und beim plötzlichen Abbremsen des Überholenden nicht mehr ausreichte.

9

Nach diesen Grundsätzen ist auf der Grundlage der vom Berufungsgericht in tatrichterlicher Würdigung angenommenen Nichterweislichkeit des genauen Unfallhergangs eine hälftige Schadensteilung aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden.

Galke     

        

Zoll     

        

Wellner

        

Diederichsen     

        

Stöhr     

        

Meta

VI ZR 15/10

30.11.2010

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend LG Aachen, 8. Januar 2010, Az: 6 S 168/09, Urteil

§ 7 Abs 1 StVG, § 17 Abs 1 StVG, § 18 Abs 1 StVG, § 18 Abs 3 StVG, § 286 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 30.11.2010, Az. VI ZR 15/10 (REWIS RS 2010, 929)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 929

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7 U 100/17 (Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht)


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