15. Kammer | REWIS RS 2011, 306
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Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bochum vom 17.02.2011 – 4 Ca 2834/10 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen
Die Parteien streiten um die rechtliche Wirksamkeit einer arbeitgeberseitigen Kündigung.
Der 43-jährige Kläger ist seit 1988 nach erfolgreicher Berufsausbildung bei der Beklagten, einer 100 %-igen Tochter der S1 B2 GmbH, die ihrerseits zu 100 % der S3 B2 gehört, die mit derzeit rund 650 Mitarbeitern ein kommunales Entsorgungsunternehmen betreibt, als Kraftfahrzeugmechaniker beschäftigt. Er ist verheiratet und Vater von sechs, davon vier Kindern zum gesetzlichen Unterhalt verpflichtet.
Auf das Arbeitsverhältnis findet Anwendung der TVöD. Der Kläger ist in die Entgeltgruppe 6 Stufe 6 eingruppiert, sein monatliches Tabellenentgelt belief sich zuletzt auf 2504,50 EUR brutto ohne Zulagen. Das Arbeitsverhältnis des Klägers ist gem. § 34 Abs. 1 S. 2 TVöD ordentlich unkündbar.
Am 04.10.2010 war der Kläger beauftragt, einen in der Zentraldeponie eingesetzten Radlader zu reparieren. Er fuhr hierfür mit dem Werkstattwagen zum Zentraldeponie-Gelände. Dort führte er Testfahrten mit dem Radlader durch. Am Umschlagplatz, an dem mit Alu-Felgen bestückte Reifen zwischenlagerten, verlud der Kläger vier Reifen mit Alu-Felgen der Größe 190/50 R 15 – von dem vorgesetzten Deponieleiter D2 beobachtet – in die Radladerschaufel und transportierte diese zur Servicehalle, an der der Werkstattwaren abgestellt war. Unter Hilfeleistung des dort befindlichen Auszubildenden S2 verbrachte er gegen 9.00 Uhr die vier Reifen mit Alu-Felgen aus der Radladerschaufel in den Werkstattwagen.
Während der Reparatur des Radladers erschien der Deponieleiter D2 bei dem Kläger und führte mit diesem ein Gespräch, in dessen Verlauf der Kläger die in den Werkstattwagen verladenen Reifen nebst Alu-Felgen nicht erwähnte. Gegen 11.00 Uhr erschienen der Deponieleiter D2 und der Personalleiter W2 bei dem immer noch mit der Radlader-Reparatur beschäftigten Kläger und fragten diesen, was er mit den in dem Werkstattwagen geladenen Rädern wolle. Der Kläger antwortete, er wolle die Reifen mit nach Hause nehmen und habe ihn, den Deponieleiter, noch um Erlaubnis bitten wollen.
In einem auf Veranlassung der Beklagten anberaumten Anhörungstermin gab der Kläger am 06.10.2010 zu, er habe den Deponieleiter noch fragen wollen, ob er die bereiften Alu-Felgen mit nach Hause nehmen dürfe. Obwohl die Reifengröße für sein Privatfahrzeug nicht zugelassen sei, könne diese nachträglich in der Zulassungsbescheinigung eingetragen werden. Er habe zunächst die Radlader-Reparatur durchführen wollen. Der Deponieleiter habe ihm schon einmal, im Jahre 2005, gestattet, Gegenstände vom Betriebsgelände mit nach Hause zu nehmen. Er habe nichts unterschlagen oder stehlen wollen.
In einem bei der Beklagten existierenden Präventionsprogramm - Stand Dezember 2007 -, welches dem Kläger durch Schulungen bekannt war, heißt es bezogen auf zur Entsorgung oder Verwertung abgegebene Gegenstände, diese seien Eigentum der Beklagten und weiter: "Eine nicht genehmigte Entnahme ist strafbar und wird in jedem Fall geahndet." Das Präventionsprogramm gilt mittlerweile in einer neueren Fassung aus 2010 und formuliert nunmehr, dass eine Entnahme strafbar sei und in jedem Fall geahndet werde. Dem Kläger ist das aktuelle Präventionsprogramm bisher nicht im Wege der Schulung bekannt gegeben worden.
Bei der Beklagten abgegebene Reifen und Felgen werden zur weiteren Entsorgung an ein weiteres Unternehmen gegeben; die Beklagte leistet der annehmenden Firma hierfür ein Entgelt.
Mit Schreiben vom 08.10.2010 hörte die Beklagte den bei ihr bestehenden Betriebsrat zu einer beabsichtigten außerordentlichen fristlosen Tatkündigung, hilfsweise einer außerordentlichen Tatkündigung mit sozialer Auslauffrist, hilfsweise zu einer außerordentlichen fristlosen Verdachtskündigung und hilfsweise zu einer außerordentlichen Verdachtskündigung mit sozialer Auslauffrist an. Auf den Inhalt des Anhörungsschreibens (Bl. 17 – 23 d.A.) wird für die Einzelheiten verwiesen.
Der Betriebsrat äußerte mit Stellung nehmendem Schreiben vom 13.10.2010 (Bl. 15, 16 d.A.) Bedenken.
Mit Schreiben vom 13.10.2010 (Bl. 14 d.A.) kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zu dem Kläger außerordentlich fristlos, hilfsweise außerordentlich mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2011.
Der Kläger hat vorgetragen, er habe nach beendeter Reparatur des Radladers den Deponieleiter um die Genehmigung zur Mitnahme der bereiften Felgen bitten wollen. Nur bei dessen Zustimmung hätte er die Räder vom Betriebsgelände entfernt. Er habe die Räder auch nicht in dem Werkstattwagen versteckt, sondern offen mit Hilfe des Auszubildenden in den Wagen verladen. Er habe sich so verhalten wollen wie 2005, als der Deponieleiter ihm die Mitnahme von Material gestattet hatte. Wirtschaftlicher Schaden sei der Beklagten auch nicht entstanden. Die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats hat der Kläger bestritten.
Er hat beantragt
festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 13.10.2010 weder mit außerordentlicher Frist beendet worden ist, noch außerordentlich mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2011 beendet wird, sondern unverändert fortbesteht.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, für einen Diebstahls- oder Unterschlagungsvorsatz spreche, dass der Kläger die Räder auf dem Betriebsgelände gesucht habe und dafür ansonsten unnötige Wege mit dem Radlader gefahren sei, dass er den Deponieleiter bei dem ersten Gespräch nicht von sich aus auf die Räder hingewiesen habe und dass er – von dem Personal- und dem Deponieleiter in dem 11.00 Uhr-Gespräch auf die Räder angesprochen – geantwortet habe, dass man das nicht machen dürfe. Ein geringer Wert der Räder oder sogar deren Wertlosigkeit sei für die Kündigung nicht von Bedeutung.
Mit Urteil vom 17.02.2011 hat das Arbeitsgericht der Feststellungsklage des Klägers stattgegeben und seine Entscheidung zusammengefasst wie folgt begründet:
Für die Kündigung liege ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB nicht vor, und zwar weder für eine Tat- noch für eine Verdachtskündigung. Der Kläger sei weder eines vollendeten noch eines versuchten Vermögensdelikts gegenüber der Beklagten verdächtig, geschweige denn einer entsprechenden Tat überführt. Das Verbringen der bereiften Alu-Felgen in den Werkstattwagen stelle nicht bereits das Begehen eines entsprechenden Delikts dar. Der Kläger habe in aller Öffentlichkeit und unter Hilfeleistung eines Auszubildenden gehandelt. Es sei verständlich, dass er den Deponieleiter nicht bereits im ersten Gespräch auf die Reifen ansprach, denn er habe diesen durch die Mitteilung einer erfolgreichen Reparatur günstig stimmen wollen. Das Geschehen lasse nicht den Schluss zu, der Kläger habe das Betriebsgelände verlassen wollen, ohne die notwendige Erlaubnis zur Mitnahme der Räder erhalten zu haben. Dass der Kläger so habe verfahren wollen, sei auch daraus ersichtlich, dass er in der Vergangenheit entsprechend gehandelt habe. Das Präventionsprogramm 2007 sehe Genehmigungen für Entnahmen vor; ein strenger formuliertes Präventionsprogramm 2010 sei dem Kläger noch nicht bekannt gegeben worden.
Auch ein dringender Tatverdacht gegenüber dem Kläger sei nicht begründbar. Aus der Situation am 04.10.2010 sei allenfalls ein geringer Anfangsverdacht her leitbar, den die Beklagte jedoch durch weitere Beobachtung einer Klärung hätte zuführen können.
Gegen das ihr am 12.07.2011 zugestellte erstinstanzliche Urteil hat die Beklagte am 04.08.2011 eingehend beim Landesarbeitsgericht Berufung eingelegt und diese mit am 07.09.2011 eingegangenem Schriftsatz begründet.
Die Beklagte hält die außerordentliche fristlose Kündigung für gerechtfertigt, da der Kläger am 04.10.2010 vier in ihrem Eigentum stehende Alu-Felgen an sich genommen habe, um diese für private Zwecke zu verwenden. Zumindest für eine Unterschlagung bestehe ein dringender Tatverdacht.
Die Argumentation des Arbeitsgerichts, der Kläger habe zuerst seine Reparaturarbeiten fertigstellen wollen, um seinen Vorgesetzten dadurch günstig zu stimmen, sei nicht lebensnah; nicht einmal der Kläger selbst habe sich darauf berufen. Er habe vielmehr zwei Gelegenheiten verstreichen lassen, um die Genehmigung hinsichtlich der Alu-Felgen einzuholen. Der Kläger habe beim Einladen der Felgen auch nicht völlig offen agiert, sondern im Gegenteil erhebliche Anstrengungen unternommen, die Alu-Felgen den Blicken ihres Deponieleiters zu entziehen, indem er die Tür des Werkstattwagens möglichst schnell geschlossen habe. Angesprochen auf die Alu-Felgen in dem Gespräch gegen 11.00 Uhr habe der Kläger erklärt, er wolle diese mit nach Hause nehmen und hätte den Deponieleiter noch fragen wollen, ob er dies dürfe, und zwar persönlich, nicht telefonisch. Ihr Personalleiter habe in diesem Gespräch auch den Auszubildenden S2 auf den Vorfall angesprochen. Dieser habe lediglich schildern können, dass er dem Kläger ohne Aufforderung beim Einladen der Felgen geholfen habe und dass ein Gespräch über Sinn und Zweck des Einladens zwischen ihm und dem Kläger nicht stattgefunden habe.
In seiner Anhörung am 06.10.2010 habe der Kläger nicht erwähnt, dass er den Deponieleiter während der fraglichen Zeitspanne am 04.10.2010 zweimal persönlich gesehen hat. Dies zeige, dass der Kläger selbst davon ausgegangen sei, sich nicht richtig verhalten zu haben.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Bochum aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er weist zunächst darauf hin, dass ihm bis zur Kündigung keinerlei Abmahnungen oder Ermahnungen erteilt worden seien.
Weiter führt der Kläger aus, es liege weder eine vollendete noch versuchte Unterschlagung vor. Er habe die Reifen vollkommen unverborgen und für alle sichtbar in der Servicehalle in den Werkstattwagen geladen. Dabei habe er sich nicht eiliger bewegt als sonst auch. Durch die Fenster der beiden Hecktüren des Werkstattwagens seien die Räder problemlos sichtbar gewesen. Er habe den Auszubildenden S2 darüber informiert, dass er bei der Ausfahrt vor der Verwaltung habe anhalten und fragen wollen, ob er die Reifen für sich mitnehmen dürfe.
Er habe sich in der letzten Arbeitswoche vor seinem Urlaub befunden und deshalb unbedingt die Reparatur noch gewährleisten wollen. Vor deren Abschluss habe er den Vorgesetzten Deponieleiter nicht mit Privatangelegenheiten befassen wollen, zumal dieser – unstreitig – auf die Eilbedürftigkeit der Reparatur hingewiesen hatte.
Der Beklagten sei weder ein finanzieller Schaden entstanden noch sei bei ihr ein Ansehensverlust eingetreten.
Wegen des weiteren Sachvorbringens der Parteien wird auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlungen verwiesen.
I.
II.
In der Sache kann die Berufung keinen Erfolg haben. Das Arbeitsgericht hat dem Feststellungsbegehren des Klägers zu Recht und mit insgesamt zutreffender Begründung stattgegeben.
Denn die Kündigung vom 13.10.2010 hat das Arbeitsverhältnis des Klägers weder außerordentlich fristlos noch außerordentlich mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2011 aufgelöst.
1. Es fehlt für die Kündigung an einem wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB.
Gem. § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund deren dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnis nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d.h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht (vgl. nur BAG vom 07.07.2011 – 2 AZR 355/10, NZA 2011, 1412 m.w.N.).
2. Die Würdigung des Arbeitsgerichts, der Kläger sei aufgrund seines Verhaltens am 04.10.2010 weder eines vollendeten noch eines versuchten Eigentums- oder Vermögensdelikts gegenüber der Beklagten verdächtig, geschweige denn einer entsprechenden Tat überführt, hält einer Überprüfung durch die Berufungskammer stand.
a) Begeht der Arbeitnehmer bei oder im Zusammenhang mit seiner Arbeit rechtswidrige und vorsätzliche Handlungen unmittelbar gegen das Vermögen des Arbeitgebers, verletzt er zugleich in schwerwiegender Weise seine schuldrechtliche Pflicht zur Rücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB) und missbraucht das in ihn gesetzte Vertrauen. Ein solches Verhalten kann auch dann einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB darstellen, wenn die rechtswidrige Handlung möglicherweise zu gar keinem Schaden geführt hat (BAG vom 10.06.2010 – 2 AZR 541/09, NZA 2010, 1227; BAG vom 13.07.2007 – 2 AZR 537/06, NZA 2008, 1008; BAG vom 12.08.1999 – 2 AZR 923/98, NZA 2000, 421). Ein Arbeitnehmer, der die Integrität von Eigentum und Vermögen seines Arbeitgebers vorsätzlich und rechtswidrig verletzt, zeigt ein Verhalten, das geeignet ist, die Zumutbarkeit seiner Weiterbeschäftigung in Frage zu stellen. Die hierdurch ausgelöste "Erschütterung" der Vertrauensgrundlage tritt unabhängig davon ein, welcher konkrete wirtschaftliche Schaden dem Arbeitgeber entstanden ist.
b) Das Verhalten des Klägers am 04.10.2010 stellt sich, wie das Arbeitsgericht im Ergebnis zutreffend erkannt hat, nicht als rechtswidrige und vorsätzliche Handlung dar, die unmittelbar gegen das Vermögen der Beklagten gerichtet war.
Es konnte offen bleiben, ob das Verhalten des Klägers möglicherweise den Versuch eines Straf- und/oder zivilrechtlichen Delikttatbestands erfüllte. Für die kündigungsrechtliche Beurteilung ist weder die strafrechtliche noch die sachenrechtliche Bewertung von Belang. Entscheidend ist allein der Verstoß des Arbeitnehmers gegen vertragliche Haupt- oder Nebenpflichten und der mit ihm verbundene Vertrauensbruch (BAG vom 19.04.2007 – 2 AZR 78/06, AP BGB § 611 Direktionsrecht Nr. 77). Auch eine nicht strafbare, gleichwohl erhebliche Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten kann deshalb einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB darstellen.
c) Vorliegend war eine erhebliche, die Schwelle zum wichtigen Grund überschreitende Pflichtverletzung nicht anzunehmen.
Das Geschehen am Morgen des 04.10.2010 lässt nicht den Schluss zu, der Kläger habe mit dem Werkstattwagen, in dem er zuvor vier bereifte Alu-Räder geladen hatte, das Betriebsgelände der Zentraldeponie verlassen wollen, ohne zuvor von dem Deponieleiter D2 die Erlaubnis zur privaten Mitnahme zu erbitten.
aa) Dem Kläger ist nicht vorwerfbar, dass er sich mit dem von ihm zu reparierenden Radlader auf den sogenannten Umschlagplatz begab, um dort die Alu-Felgen aufzuladen. Es mag sein, dass Testfahrten mit dem Radlader grundsätzlich im Bereich des sogenannten Gleisdreiecks durchzuführen sind. Ein Indiz dafür, dass der Kläger die Felgen ohne weitere Nachfrage habe mitnehmen wollen, liegt darin keineswegs. Denn der Kläger transportierte die Felgen für jedermann offen einsehbar in der Schaufel des Radladers hin zu dem an der Servicehalle geparkten Werkstattwagen. Jedenfalls sprach zu diesem frühen Zeitpunkt des Geschehens nichts dafür, dass der Kläger bis zum Verlassen des Deponiegeländes keine Erlaubnis zur Mitnahme der Alu-Felgen einholen würde.
bb) Zwar weist die Beklagte darauf hin, dass der Kläger zwei Gelegenheiten verstreichen ließ, seinen Vorgesetzten D2 wegen der Felgen anzusprechen. Hierzu hatte der Kläger gegen 9.00 Uhr und 9.30 Uhr jeweils Gelegenheit. Indes ist der Beklagten nicht darin zu folgen, dass erst die arbeitsgerichtliche Entscheidung einen Geschehensablauf annehme ("Es ist verständlich, dass der Kläger erst Herrn D2 durch die Mitteilung einer erfolgreichen Reparatur ihn günstig einstimmen wollte…"), auf den sich der Kläger selbst nicht berufen habe und der auch nicht lebensnah sei. Denn, wenn auch in der Formulierung abweichend, hat der Kläger bereits in der Klageschrift vom 28.10.2010 ausgeführt, dass er zunächst den schließlich eiligen Reparaturauftrag habe fertigstellen wollen, bevor er um Erlaubnis der Reifenentnahme nachsuchte; dies vor dem Hintergrund seines für die darauffolgende Woche genehmigten Urlaubs. Dieser Vortrag lässt nicht erkennen, dass der Kläger von vornherein nicht beabsichtigte, Nachfrage wegen der Reifen zu halten. Es ist auch für die Berufungskammer nachvollziehbar und nicht wenig lebensnah, wenn ein Arbeitnehmer eine Bitte um Entnahme von Gegenständen für seinen privaten Gebrauch erst dann äußert, wenn er seinerseits seine Arbeitsleistung ordnungsgemäß erbracht hat. So ist auch die Einschätzung des erstinstanzlichen Gerichts ("günstig einstimmen") einzuordnen.
cc) Ein Indiz, das gegen die lauteren Absichten des Klägers spricht, ist nicht die Art und Weise des Verbringens der Alu-Felgen in den Werkstattwagen.
Der Vortrag der Beklagten, der Kläger habe, als er während des Einladens der Felgen den Deponieleiter herannahen sah, erhebliche Anstrengungen unternommen, die Felgen dem Blick seines Vorgesetzten zu entziehen, indem er die Tür des Werkstattwagens möglichst schnell geschlossen habe, ist unter Berücksichtigung der Erwiderung des Klägers, er habe sich beim Umladen der Räder nicht eiliger bewegt als er dies sonst auch tue, nicht geeignet zur Annahme eines entsprechenden Indiz` zu führen. Der Umladevorgang wurde für jeden in der Servicehalle Anwesenden sichtbar von dem Kläger durchgeführt. Ob die Räder nach dem Einladen nicht mehr ohne weiteres sichtbar waren – so die Beklagte -, kann ebenso dahinstehen. Jedenfalls hat der Werkstattwagen zwei Heckfenster, durch die hindurch die Räder von außen einsehbar waren.
Auch die Tatsache, dass der Auszubildende S2 dem Kläger half, die Alu-Felgen in den Werkstattwagen umzuladen, ist gerade kein Indiz für die Annahme, der Kläger habe nicht noch um Erlaubnis nachfragen wollen, ob er die Reifen für sich mitnehmen dürfe. Der Kläger konnte insoweit nicht sicher davon ausgehen, dass der Auszubildende nicht bei einer späteren Gelegenheit Betriebsangehörigen Mitarbeitern oder Vorgesetzten über seine Mithilfe beim Umladen der Räder berichten würde. Allein die Tatsache, einen Mitwisser zu haben, spricht nicht für die Annahme einer nicht beabsichtigten Bitte um Erlaubnis.
dd) Gegen die von der Beklagten unterstellte Verhaltensweise spricht auch der Umstand, dass dem Kläger bereits zu einem früheren Zeitpunkt auf seine Nachfrage die Mitnahme von im Eigentum der Beklagten stehenden Materialien gestattet worden war. Die damalige Durchführungsweise entsprach auch dem Kläger bekannten Präventionsprogramm 2007, nach dem nur eine nicht genehmigte Entnahme strafbar war. Das bedeutet, wie der damalige Sachverhalt belegt, dass Genehmigungen für die Entnahmen von Materialien/Gegenständen möglich und weder straf- noch sanktionierbar sind. Der Kläger hatte im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ihm im konkreten Fall die Erlaubnis seitens der Beklagten versagt würde.
Dass mittlerweile ein strenger formuliertes Präventionsprogramm 2010 die Vorgängerfassung ersetzt hat, ist für den streitigen Fall ohne Relevanz, da die 2010er-Fassung dem Kläger unstreitig noch nicht bekannt gegeben war.
ee) Nicht von entscheidungserheblicher Bedeutung ist es, dass die Räder möglicherweise nicht auf das Privatfahrzeug des Klägers passen. Wäre dem Kläger die Mitnahme der Alu-Felgen gestattet worden, wäre es unerheblich, ob er diese für sein privates Kfz oder für ein anderes Fahrzeug verwendet hätte. Hierauf weist auch das Arbeitsgericht zutreffend hin.
ff) Die Berufungskammer schließt sich im Übrigen den Entscheidungsgründen des arbeitsgerichtlichen Urteils an und verzichtet auf eine entsprechende Wiederholung.
d) Die Kündigung erweist sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Verdachtskündigung als rechtswirksam.
aa) Der Verdacht einer strafbaren Handlung stellt gegenüber dem Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Tat begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar, der in dem Tatvorwurf nicht enthalten ist. Eine Verdachtskündigung kann gerechtfertigt sein, wenn sich starke Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen begründen, die Verdachtsmomente geeignet sind, dass für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat (BAG vom 27.01.2011 – 2 AZR 825/09, NZA 2011, 798; BAG vom 10.06.2010 – 2 AZR 541/09, NZA 2010, 1227; BAG vom 23.06.2009 – 2 AZR 474/07, AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 47; BAG vom 10.02.2005 – 2 AZR 189/04, NZA 2005, 1056 m.w.N.). Es kommt darauf an, ob die vom Arbeitgeber zur Begründung des Verdachts vorgetragenen Tatsachen den Verdacht rechtfertigen. Dies richtet sich wesentlich nach der Schlüssigkeit des Vorbringens.
bb) Im Ergebnis zutreffend hat das Arbeitsgericht verneint, dass der Verdacht gegenüber dem Kläger dringend war.
Der Verdacht muss zum einen auf konkrete Tatsachen gestützt sein und sich aus Umständen ergeben, die so beschaffen sind, dass sie einen verständigen und gerecht abwägenden Arbeitgeber zum Ausspruch der Kündigung veranlassen können (BAG vom 10.02.2005, a.a.0. m. Hinw. auf BAG vom 30.06.1983 – 2 AZR 540/81). Für den Verdacht muss eine große Wahrscheinlichkeit bestehen.
Bis zum Zeitpunkt gegen 11.00 Uhr sind dem Geschehen vom 04.10.2010 keine Umstände zu entnehmen, die einen dringenden Tatverdacht gegenüber dem Kläger aus der Sicht eines verständigen und gerecht abwägenden Arbeitgebers begründen könnten. Der Beklagten ist zuzugestehen, dass ab dem Moment, indem der Deponieleiter den Kläger mit dem bereiften Alu-Felgen antraf, also gegen 9.00 Uhr, ein Anfangsverdacht entstanden war. Dieser erstarkte indes bis zu der Frage des Deponieleiters gegen 11.00 Uhr, was der Kläger denn mit den in den Werkstattwagen geladenen Reifen wolle, nicht zum dringenden Verdacht. Dringend wäre der Verdacht erst dann geworden, wenn der Kläger das (Deponie-) Betriebsgelände verlassen hätte, ohne zuvor die Erlaubnis zur privaten Mitnahme der Räder eingeholt zu haben. Unstreitig hatte der Kläger, wäre er nicht zuvor von dem Deponieleiter angesprochen worden, die tatsächliche Möglichkeit, die Erlaubnis zu erlangen, noch bis zum Verlassen des Betriebsgeländes. Dass der Kläger, wie er gegenüber dem Deponieleiter in dem Gespräch um 11.00 Uhr bekundete, noch die entsprechende Erlaubnis eingeholt hätte, ist letztlich nicht widerlegbar.
Die Beklagte hat zudem nicht alle ihr zumutbaren Anstrengungen unternommen, den Sachverhalt vollständig aufzuklären. Hierzu hätte auch eine intensive Befragung des Auszubildenden S2, der den Kläger half, die Räder in den Werkstattwagen zu verladen, gehört. Die Beklagte durfte sich insbesondere nicht damit zufrieden geben, dass der Auszubildende keine Angaben zu Sinn und Zweck des Einladens machen konnte. Sehr wohl hätte der Auszubildende – in Abwesenheit des Klägers befragt – weitere Details des Geschehens bzw. des Verhaltens des Klägers – zu einem besonders eiligen Vorgehen beim Einladen der Räder, einer bei dem Kläger erkennbaren Hektik etc. – mitteilen können. Indem die Beklagte derartige Möglichkeiten eines weiteren Erkenntnisgewinns nicht wahrnahm, muss dieses Unterlassen dazu führen, die Dringlichkeit eines Verdachts zu verneinen.
Im übrigen sind die von der Beklagten vorgebrachten Indizien insgesamt schon nicht geeignet, einen dringenden Tatverdacht gegen den Kläger zu begründen; auf die Ausführungen unter II 2 c wird verwiesen.
3. Soweit man in dem Verhalten des Klägers gleichwohl einen Grund sehen wollte, der an sich geeignet wäre, die außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen, führt jedenfalls die gem. § 626 Abs. 1 BGB stets vorzunehmende Interessenabwägung zum Verneinen einer Unzumutbarkeit des Arbeitsverhältnisses im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB.
Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Die Bewertung ist einzelfallbezogen durchzuführen, ausgerichtet am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. nur: BAG vom 07.07.2011 a.a.0.; BAG vom 10.06.2010, a.a.0.).
Für das Beendigungsinteresse der Beklagten spricht deren rechtlich geschütztes Interesse, nur mit solchen Arbeitnehmern zusammen zu arbeiten, die nicht in schwerwiegender Weise ihre vertragliche Rücksichtnahmepflicht verletzen. Dieses Interesse reicht jedoch letztlich nicht aus, um dem Beendigungsinteresse der Beklagten den Vorrang einzuräumen. Hier sind erhebliche Umstände gegeben, die eine soziale Schutzbedürftigkeit des Klägers begründen.
Mit Rücksicht auf die langjährige, nämlich seit (einschließlich der Ausbildungszeit) 1985 bestehende störungsfreie Betriebszugehörigkeit, seine 4 (von 6) zu unterhaltenden Kinder, das nicht zu erhebliche Gewicht der Vertragsverletzung, den bei der Beklagten mangels öffentlich bekannt gewordenen Vorfalls nicht eingetretenen Vertrauensverlust, den nicht eingetretenen Schaden – für die Entsorgung der Reifen hätte die Beklagte Geld aufwenden müssen – erscheint die fristlose Kündigung nicht mehr billigenswert und angemessen im Sinne des einschlägigen Prüfungsmaßstabs der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgericht. Zudem gab es schließlich für die Beklagte eine mildere Reaktionsmöglichkeit gegenüber dem Kläger, dessen Arbeitsverhältnis zuvor völlig beanstandungsfrei verlaufen war, nämlich die Erteilung einer Abmahnung. Dieses arbeitsrechtliche Sanktionsinstrument hätte insbesondere unter Berücksichtigung des dem Kläger allerdings noch bekannt zu gebenden Präventionsprogramms 2010 der Vermeidung des Risikos zukünftiger Störungen hinreichend Rechnung getragen.
4. Eine Umdeutung der außerordentlichen Kündigung gem. § 140 BGB in eine ordentliche Kündigung scheitert bereits an der gem. § 34 Abs. 1 S. 2 TVöD bestimmten ordentlichen Unkündbarkeit des Arbeitsverhältnisses des Klägers.
III.
Ein Grund, der nach den hierfür maßgeblichen gesetzlichen Kriterien des § 72 Abs. 2 ArbGG die Zulassung der Revision rechtfertigen könnte, besteht nicht.
Meta
15.12.2011
Landesarbeitsgericht Hamm 15. Kammer
Urteil
Sachgebiet: Sa
Zitiervorschlag: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 15.12.2011, Az. 15 Sa 1184/11 (REWIS RS 2011, 306)
Papierfundstellen: REWIS RS 2011, 306
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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.
8 Sa 1332/05 (Landesarbeitsgericht Hamm)
4 Sa 414/21 (Landesarbeitsgericht Köln)
12 U 130/97 (Oberlandesgericht Köln)
22 U 134/17 (Oberlandesgericht Köln)
Außerordentliche Kündigung, Arbeitszeitbetrug, Abmahnung