Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.05.2021, Az. 4 StR 304/20

4. Strafsenat | REWIS RS 2021, 5739

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Gegenstand

Strafverurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern: Voraussetzungen und Verhältnismäßigkeit einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung nach Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und Strafrestaussetzung für eine Freiheitsstrafe


Tenor

1. Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des [X.] vom 14. Februar 2020 mit den Feststellungen aufgehoben; die äußeren Feststellungen zu den Ereignissen vom 25. Juli 2015 bleiben bestehen.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat gegen den Verurteilten nachträglich die Sicherungsverwahrung angeordnet. Seine Revision hat mit der Sachrüge den aus der [X.] ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.

I.

2

Das [X.] Kaiserslautern verurteilte den [X.] am 25. Mai 2004, rechtskräftig seit dem 19. Oktober 2004, wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in elf Fällen und sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Nach den Feststellungen fühlte sich der [X.] zu einem zur Tatzeit elf Jahre alten Schüler hingezogen, der eine Einrichtung für Lernbehinderte besuchte. In der [X.] von Oktober 2002 bis 1. Juli 2003 kam es zwischen dem Verurteilten und dem Geschädigten zu sexuellen Kontakten, wobei der Verurteilte in einem Fall für „einige Sekunden“ an dem Geschädigten den Analverkehr ausführte und sich in einem weiteren Fall von dem Geschädigten anal penetrieren ließ. In einem anderen Fall drang der Verurteilte mit seinem Finger in den Anus des Geschädigten ein; zudem kam es mehrfach auch zu wechselseitiger oraler und manueller Befriedigung sowie weiteren niederschwelligen sexuellen Handlungen. In einem weiteren Fall onanierte der Verurteilte vor einem zwölf Jahre alten Jungen. Die [X.] setzte für den vollzogenen Analverkehr eine Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren und für die weiteren Fälle der Penetrationen jeweils Einzelstrafen von einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe fest. Die übrigen Fälle wurden mit Einzelstrafen von neun und vier Monaten Freiheitsstrafe geahndet. Das sachverständig beratene [X.] ging dabei davon aus, dass der Verurteilte an einer „Kernpädophile“ leide, die als schwere andere seelische Abartigkeit zu bewerten sei. Aufgrund dieses Zustandes sei seine Steuerungsfähigkeit bei der Begehung der [X.] erheblich vermindert gewesen, weil es ihm erheblich schwerer gefallen sei, seinen Impulsen zu widerstehen. Infolge dieser schweren Persönlichkeitsstörung seien von dem Verurteilten mit hoher Wahrscheinlichkeit gleichgelagerte Straftaten zu erwarten.

3

Die angeordnete Maßregel wurde ab dem 20. Oktober 2004 vollstreckt. Mit Beschluss vom 1. Juli 2015 setzte die Strafvollstreckungskammer des [X.]s Landau in der Pfalz die Vollstreckung der Unterbringung sowie die verbleibende Reststrafe zur Bewährung aus und erteilte dem Verurteilten im Rahmen der von Gesetzes wegen eintretenden Führungsaufsicht unter anderem die Weisung, keinen Kontakt zu Minderjährigen aufzunehmen, mit ihnen nicht in einer Art zu verkehren, die über das im Alltag übliche Maß hinausgeht, insbesondere Minderjährige nicht persönlich anzusprechen. Außerdem wurde ihm untersagt, ausgewiesene Kinderfeste oder Kinderveranstaltungen zu besuchen oder sich dort in einem Umkreis von 100 Metern aufzuhalten. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Verurteilte die von ihm begangenen Sexualdelikte als verwerflich betrachte, eine Nachreifung und Festigung seiner Persönlichkeit eingetreten sei und er neue Konflikt- und Problemlösungsstrategien erlernt habe. Am 16. Juli 2015 wurde der Verurteilte aus dem Maßregelvollzug entlassen.

4

Am 25. Juli 2015 begab sich der Verurteilte im Wissen um den darin liegenden Weisungsverstoß in einen Skaterpark, in dem ein Fest für Kinder und Jugendliche stattfand. Dort setzte er sich neben einen zwölf Jahre alten Schüler und fragte diesen nach seinem Namen und seinem Alter. Sodann spiegelte er ihm vor, dass er für ein Skatermagazin arbeite und ein Fotostudio zuhause habe. Schließlich fragte der Verurteilte den Schüler, ob er mit ihm nach Hause kommen und Bilder von sich und seinem Skateboard haben wolle. Dabei bot er ihm einen Geldbetrag zwischen 40 und 50 Euro an. Als der Schüler das Angebot ablehnte, erhöhte der Verurteilte den Geldbetrag. Da der Schüler auch weiterhin kein Interesse zeigte, verabschiedete sich der Verurteilte mit einem Handschlag, wobei er mit seiner Hand die Handinnenfläche des Schülers streichelte. Der Schüler war aufgrund dieses Vorfalls für mehrere Monate verängstigt. Noch am selben Tag sprach der Verurteilte auf offener Strasse einen 14-Jährigen an und bot ihm 50 Euro „für Sex“. Als der Angesprochene dies ablehnte, war das Gespräch beendet. Was der Verurteilte genau vorhatte oder gemacht hätte, wenn einer der Angesprochenen sein Angebot angenommen hätte, vermochte die [X.] nicht festzustellen. Am 28. Juli 2015 erging gegen den Verurteilten infolge dieser Vorfälle ein [X.], der ab dem 29. Juli 2015 vollzogen wurde. Mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer des [X.]s Landau in der Pfalz vom 18. Dezember 2015 wurde die Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sowie der Restfreiheitsstrafe widerrufen und die Maßregel erneut vollzogen.

5

Mit Beschluss vom 23. April 2018 erklärte das [X.] die Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt. Zur Begründung führte der Senat - gestützt auf ein Sachverständigengutachten vom 21. Januar 2018 - aus, dass der vom [X.] Kaiserslautern in seinem Urteil vom 25. Mai 2004 angenommene, der Unterbringungsanordnung tragend zugrunde gelegte Defektzustand nicht mehr bestehe. Zwar sei dem Verurteilten weiterhin die Diagnose einer Pädophilie mit homosexueller Ausrichtung und stabiler Präferenz für Jungen in der Pubertät zu stellen. Die im [X.] in Bezug auf Impulskontrolle und Reife herangezogenen Einschränkungen im Persönlichkeitsgefüge des Verurteilten seien aber nicht mehr feststellbar. Das noch verbleibende Störungsbild einer Paraphilie rechtfertige eine rechtliche Einordnung als schwere andere seelische Abartigkeit nicht mehr. Eine Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung komme nicht in Betracht, weil die [X.] weiterhin negativ sei.

6

Seit dem 24. April 2018 befand sich der Verurteilte in Strafhaft. Mit Beschluss vom 27. November 2019 ordnete das [X.] die vorläufige Unterbringung des Verurteilten in der nachträglichen Sicherungsverwahrung an. In der gesamten [X.] der Unterbringung nahm der Verurteilte zwar regelmäßig an [X.] teil, zeigte sich aber wenig therapiewillig. Nachdem er zeitweilig die Auffassung vertreten hatte, dass seine Taten verwerflich gewesen seien, es einvernehmliche sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern nicht geben könne und sexuelle Handlungen die Kinder schädigen könnten, revidierte er diese Äußerungen und gab an, jene seien nur dem Wunsch geschuldet gewesen, [X.] zu erhalten. Er zeigte keine Reue oder Schuldgefühle und erklärte zuletzt am 18. Oktober 2019 schriftlich, dass er keine Veranlassung sehe, sein Verhalten zu bereuen und/oder eine Therapiemotivation zu entwickeln.

II.

7

Die auf § 66b Abs. 1 i.V.m. § 66 Abs. 2 StGB aF und Art. 316f Abs. 2 Satz 2 [X.] gestützte Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung kann nicht bestehen bleiben, weil die Ausführungen zur Gefahrenprognose und zur Verhältnismäßigkeit durchgreifenden revisionsrechtlichen Bedenken begegnen. Auch hat die [X.] das ihr eingeräumte Ermessen nicht erkennbar ausgeübt.

8

1. Das [X.] ist zutreffend davon ausgegangen, dass im vorliegenden Fall § 66b StGB in der Fassung des [X.] und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 ([X.] [X.], [X.]) anzuwenden ist, weil die [X.] (Tatzeit: Oktober 2002 bis Juli 2003) vor dem 1. Juni 2013 begangen wurden. Für diesen Fall sieht Art. 316f Abs. 2 Satz 1 [X.] die Anwendung der bis zum 31. Mai 2013 geltenden Regelungen vor, zu denen auch die Vorschrift des Art. 316e Abs. 1 Satz 2 [X.] zählt, die ihrerseits für vor dem 1. Januar 2011 begangene [X.] das Recht vor Inkrafttreten des [X.] vom 22. Dezember 2010 für anwendbar erklärt. Deren Anwendung erfolgt allerdings nur vorbehaltlich der Modifikationen des Art. 316f Abs. 2 Satz 2 bis 4, Abs. 3 [X.], weil die Anordnung aufgrund einer gesetzlichen Regelung erfolgt, die im [X.]punkt der [X.] noch nicht in [X.] war (vgl. [X.], Urteil vom 30. Juli 2020 - 4 StR 486/19, NStZ-RR 2020, 325, 326 mwN).

9

2. Auch hat das [X.] rechtsfehlerfrei angenommen, dass die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB aF vorliegen und die bei dem Verurteilten diagnostizierte homosexuelle Pädophilie eine psychische Störung im Sinne von § 316f Abs. 2 Satz 2 [X.] i.V.m. § 1 Abs. 1 Nr. 1 [X.] darstellt. Schließlich begegnet auch die Annahme, dass es sich bei der festgestellten Nachreifung, dem Fehlen tragfähiger Anhaltspunkte für eine Impulskontrollstörung und der sich aus den Vorfällen vom 25. Juli 2015 und dem Verhalten des Verurteilten im Maßregelvollzug ergebenden Neubewertung der Gefährlichkeitsprognose um neue Tatsachen im Sinne des § 66b Abs. 2 StGB aF handelt, keinen revisionsrechtlichen Bedenken. Denn neue Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift können auch dann gegeben sein, wenn die Gefährlichkeit des [X.] vor dem Hintergrund der nicht (mehr) vorhandenen Voraussetzungen für eine Unterbringung nach § 63 StGB auf einer abweichenden Grundlage belegt wird (vgl. [X.], Urteil vom 10. August 2011 - 2 [X.], Rn. 13; Urteil vom 21. Juni 2011 - 5 StR 52/11, NJW 2011, 2744 Rn. 18 mwN).

3. Jedoch genügen die Ausführungen zur hochgradigen Gefahr und zur Schwere der zu erwartenden Straftaten sowie die sich daran anschließende Prüfung der Verhältnismäßigkeit nicht den sich hier stellenden hohen Anforderungen.

a) Die Verhältnismäßigkeit der Sicherungsverwahrung ist nur unter der Voraussetzung gewahrt, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen hergeleitet werden kann. Soweit bei einer nachträglichen Anordnung - wie hier - darüber hinaus ein nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG schutzwürdiges Vertrauen des Verurteilten auf ein Unterbleiben der Anordnung einer Sicherungsverwahrung beeinträchtigt wird, ist dies angesichts des damit verbundenen Eingriffs in das Freiheitsrecht des Betroffenen verfassungsrechtlich nur zum Schutz höchster [X.] zulässig. Der mit einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung verbundene Eingriff in das Vertrauen des Betroffenen auf das Unterbleiben einer entsprechenden Unterbringung kann deshalb nur dann als verhältnismäßig angesehen werden, wenn der Verurteilte an einer psychischen Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 [X.] leidet und die hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten besteht, die aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist (Art. 316f Abs. 2 Satz 2 [X.]; vgl. dazu [X.], Urteil vom 4. Mai 2011 − 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, [X.]E 128, 326, 388 ff., 406 f.; Beschluss vom 29. Oktober 2013 - 2 BvR 1119/12; Beschluss vom 6. Februar 2013 - 2 BVR 2122/11 u.a., [X.]E 133, 40 Rn. 42). Dabei ist hinsichtlich beider Elemente der Gefährlichkeitsprognose - schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten und hochgradige Gefahr - ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. [X.], Urteil vom 18. Juli 2018 ‒ 1 StR 122/18 Rn. 20; Urteil vom 11. August 2016 ‒ 2 StR 4/16 Rn. 18 mwN). Entscheidend für die das Verhältnismäßigkeitsurteil tragende Gesamtwürdigung muss sein, dass die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung auf die prekärsten Fälle begrenzt wird (vgl. [X.], Beschluss vom 5. April 2017 - 5 StR 86/17, [X.], 526; [X.] in [X.], 5. Aufl., § 66b Rn. 24 mwN).

b) Der sich daraus ergebende Ausnahmecharakter für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung wirkt sich auch auf die Begründungstiefe der tatgerichtlichen Entscheidung aus. Dem ist dadurch Rechnung zu tragen, dass das Tatgericht seine Würdigung eingehend begründet und alle Aspekte des Falles ausschöpft (vgl. [X.], Beschluss vom 1. August 2018 - 2 BvR 1258/18, Rn. 27 [zu [X.]]; Beschluss vom 22. August 2017 - 2 BvR 2039/16 Rn. 41; Beschluss vom 4. Oktober 2012 ‒ 2 BvR 442/12, [X.], 72, 73 [jeweils zu Entscheidungen nach § 67d Abs. 2 StGB bei langandauernden Unterbringungen]; [X.], Beschluss vom 12. Januar 2021 - 4 StR 280/20 Rn. 29 [zu den Prognoseanforderungen]; siehe dazu auch Mehde in [X.]/[X.]/[X.], GG, 93. EL, Oktober 2020, Art. 104 Rn. 147 f.). Generalisierende Erwägungen reichen dafür nicht aus.

c) Zwar sind Verbrechen nach § 176a Abs. 1 i.V.m. Abs. 6 Satz 1 StGB grundsätzlich als schwere Straftaten anzusehen, auch wenn sie naturgemäß kein aggressives oder gewaltsames Vorgehen des [X.] erfordern (vgl. [X.], Beschluss vom 29. Oktober 2013 - 2 BvR 1119/12 mwN). Dies gilt erst Recht für Taten nach § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB, die mit Penetrationen des Opfers verbunden sind (vgl. [X.], Urteil vom 19. Februar 2013 - 1 [X.], [X.], 204, 205 mwN). Ob diese Taten auch als schwerste Gewalt- und Sexualstraftaten im Sinne von Art. 316f Abs. 2 Satz 2 [X.] und der Rechtsprechung des [X.] vom 4. Mai 2011 einzuordnen sind, bedarf mit Rücksicht auf die Tatsache, dass das Gesetz in § 176a Abs. 5, § 176b StGB sowie § 177 Abs. 7 und 8, § 178 StGB für bestimmte Sexualstraftaten noch (deutlich) höhere Strafandrohungen und in Bezug auf Taten nach § 176a Abs. 1 und 2 StGB einen weiten Strafrahmen von einem bzw. von zwei bis fünfzehn Jahren Freiheitstrafe vorsieht, aber jedenfalls dann einer näheren, die konkreten Umstände genau in den Blick nehmenden Erörterung, wenn sich die Schwere der zu erwartenden Taten nicht offensichtlich im oberen Bereich bewegt.

d) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht.

aa) Die [X.] ist ‒ gestützt auf die Ausführungen der angehörten Sachverständigen ‒ zu dem Ergebnis gelangt, dass der Verurteilte aufgrund der bei ihm fortbestehenden Pädophilie mit hoher Wahrscheinlichkeit, gegebenenfalls innerhalb weniger Wochen bzw. Tage, in alte Verhaltensmuster zurückfallen und den [X.] vergleichbare Taten begehen werde. Das Bestehen einer solchen Gefahr werde vor allem durch die Vorfälle vom 25. Juli 2015 bestätigt ([X.]). Dabei sei davon auszugehen, dass - vergleichbar zu den [X.] - sexueller Missbrauch bis hin zum Ausüben des Analverkehrs mit Jungen im Alter zwischen zehn und vierzehn Jahren ohne darüber hinaus gehende Gewalteinwirkung bei den [X.] besonders schwerwiegende psychische Schäden hervorrufen könne ([X.]). Der der Vorgehensweise des Verurteilten immanente Bruch von zuvor geschaffenen Vertrauensverhältnissen könne bei Kindern schwerer wiegen als Gewalttaten. Die von dem Verurteilten zu erwartenden Straftaten seien deshalb als schwerste Sexualstraftaten einzustufen ([X.]). Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung hat das [X.] dann weiter ausgeführt, dass aufgrund der hochgradigen Gefahr für die potentiellen Tatopfer und deren sexuelle Selbstbestimmung der mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung verbundene Eingriff in die Freiheit des Verurteilten im Rahmen einer Gesamtwürdigung nicht außer Verhältnis zu deren Zweck stehe (UA 74).

bb) Diese Erwägungen schöpfen die Feststellungen nicht aus und genügen deshalb nicht den hier gegebenen hohen Anforderungen an die Begründungstiefe. So hätte in die Gefahrenprognose auch Eingang finden müssen, dass von den konkret festgestellten [X.], deren Wiederholung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht, nur eine Tat einen - für kurze [X.] ‒ vollzogenen Analverkehr mit einem Kind betraf, der durch das Tatgericht mit der vergleichsweise niedrigen Freiheitsstrafe von zwei Jahren geahndet wurde, die zugleich die Einsatzstrafe war. Die weiteren Taten ahndete das Gericht ebenfalls sehr maßvoll, mit Freiheitsstrafen unter zwei Jahren. Mit Blick auf die Bandbreite der [X.] und die in deren Ahndung zum Ausdruck gekommene Schwerebeurteilung durch den Tatrichter hätte es an dieser Stelle weiterer Ausführungen bedurft, warum eine hochgradige Gefahr besteht, dass der Verurteilte trotz der Variationsbreite der bisher gewaltfrei begangenen Taten künftig Straftaten begehen wird, die in der Beurteilung ihrer Schwere im obersten Bereich denkbarer Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern oder Jugendlichen anzusiedeln sind. Hinsichtlich der als Indiz für einen Rückfall mit hoher Relevanz herangezogenen und als „tatnah“ eingeordneten Vorfälle vom 25. Juli 2015 hätte sich das [X.] auch mit dem Umstand auseinandersetzen müssen, dass der Verurteilte nach der Zurückweisung durch die Betroffenen nicht weiter insistierte und letztlich offen geblieben ist, was er getan hätte, wenn sein Angebot von einem der Angesprochenen angenommen worden wäre. Die abschließende Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch deshalb lückenhaft, weil sie sich nicht mit der bereits sehr langen Dauer der Unterbringung des Verurteilten im Maßregelvollzug auseinandersetzt.

4. Schließlich lassen die Urteilsgründe auch nicht erkennen, dass die [X.] das ihr vom Gesetzgeber eingeräumte Ermessen ausgeübt hat.

a) Nicht anders als die Regelung des § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB aF (vgl. dazu [X.], Urteil vom 19. Februar 2013 - 1 StR 275/12 Rn. 34 mwN) hat auch die Bestimmung des § 66b StGB Ausnahmecharakter. Das Gericht soll die Möglichkeit haben, sich trotz des Vorliegens der formellen und materiellen Voraussetzungen für die Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung gegen eine derartige Maßnahme zu entscheiden. Dieses Ermessen muss tatsächlich ausgeübt werden. Die maßgeblichen Gründe sind darzulegen (vgl. [X.], Beschluss vom 5. September 2019 - 3 StR 235/19, NStZ-RR 2019, 386, 387 f. [zu § 7 Abs. 2 JGG]; Urteil vom 3. Februar 2011 - 3 [X.], [X.], 172; Beschluss vom 15. Oktober 2009 ‒ 5 [X.]; Beschluss vom 21. August 2003 - 3 StR 251/03, [X.], 12 [jeweils zu § 66 Abs. 2 und 3 StGB]; [X.], StGB, 68. Aufl., § 66b Rn. 24). Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung ist der Vertrauensschutz des Verurteilten sowie sein Freiheitsrecht nochmals gegen das Schutzbedürfnis der Allgemeinheit abzuwägen (vgl. [X.], Beschluss vom 21. Juli 2010 - 5 StR 60/10 Rn. 17).

b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Die [X.] hat sich zur Frage der Ermessensausübung nicht verhalten. Auch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe lässt sich nicht entnehmen, dass sie sich ihrer Entscheidungsbefugnis bewusst war. Die Wendung im Eingang der Ausführungen zum Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Maßnahme („war ... anzuordnen“) und ihre Wiederholung bei Wiedergabe des abstrakten [X.] in materieller Hinsicht („ist ...anzuordnen“) sprechen vielmehr gegen die Ausübung eines Ermessens.

III.

Die äußeren Feststellungen zu den Geschehnissen vom 25. Juli 2015 ([X.]) Absätze 2 bis 4 der Urteilsgründe) wurden rechtsfehlerfrei getroffen und können deshalb bestehen bleiben.

VRin[X.] Sost-Scheible ist
wegen Urlaubs an der
Unterschriftsleistung gehindert.

        

Quentin     

        

Bartel

Quentin

                                   
        

     Sturm     

        

Lutz     

        

Meta

4 StR 304/20

19.05.2021

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Kaiserslautern, 14. Februar 2020, Az: 6039 Js 11784/03 - 1 KLs

§ 63 StGB, § 66b StGB vom 13.04.2007, § 176a Abs 1 StGB, § 176a Abs 2 Nr 1 StGB, § 176a Abs 5 StGB, § 176a Abs 6 S 1 StGB, § 176b StGB, § 177 Abs 7 StGB, § 177 Abs 8 StGB, § 178 StGB, § 316f Abs 2 S 2 StGBEG, § 1 Abs 1 Nr 1 ThUG, Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.05.2021, Az. 4 StR 304/20 (REWIS RS 2021, 5739)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 5739

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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