2. Strafsenat | REWIS RS 2003, 556
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Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"
Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten der Verurteilten verworfen.
G r ü n d e :
Die Beschwerdeführerin, die bereits mehrfach - zuletzt im Jahre 1992 - Freiheitsstrafen verbüßt hat, ist durch seit dem 09.03.2001 rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Köln vom 12.02.2001 - 110 -19/2000 - wegen Urkundenfälschung in 67 Fällen, davon in 41 Fällen in Tateinheit mit Betrug, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten verurteilt worden. Die Strafe ist bisher nicht vollstreckt worden, weil die Verurteilte, der bis zum 26.08.2001 Vollstreckungsaufschub gewährt worden war, Haftunfähigkeit einwendet : sie leide an schweren Depressionen, die bereits zu mehreren Suizidversuchen geführt hätten. Außerdem verweist die Verurteilte auf ihren knapp 10-jährigen Sohn F., der sich wegen massiver Trennungsängste ebenfalls in psychiatrischer Behandlung befinde. Die am 18.09.2003 erneut zum Strafantritt geladene Verurteilte hat sich zum Strafantritt nicht gestellt und mit Schriftsatz ihrer Verteidigerin vom 30.09.2003 die oben näher dargestellten Einwendungen gegen die Vollstreckung der Strafe erhoben und um gerichtliche Entscheidung nach § 458 StPO gebeten.
Durch den angefochtenen Beschluß hat das Landgericht die Einwendungen zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Landgericht im wesentlichen ausgeführt, dass von dem bei der Verurteilten bestehenden Krankheitsbild - eine narzisstische Persönlichkeitsstörung mit histrionischer Ausprägung sowie eine redizivierende depressive Störung mittelgradiger Ausprägung - für sich betrachtet keine Lebensgefahr ausgehe und das Krankheitsbild deswegen keine Vollzugsuntauglichkeit nach § 455 Abs. 2 StPO zur Folge habe. Die Suizidgefahr sei kein ausreichender Grund für den Strafaufschub nach § 455 Abs. 2 StPO, da ihr mit Sicherungsmaßnahmen nach § 88 StVollzG zu begegnen sei.
Ein vorübergehender Strafaufschub nach § 456 StPO mit Rücksicht auf die Belange des Kindes komme nicht in Betracht, weil sich an der mit der Trennung von der Mutter verbundenen Belastungssituation des Kindes nach Ablauf von 4 Monaten nichts ändern werde, der Strafaufschub diesen Zeitraum nach § 456 Abs. 2 StPO aber nicht übersteigen dürfe.
Gegen diese Entscheidung hat die Verurteilte sofortige Beschwerde eingelegt, mit der sie unter Vorlage weiterer ärztlicher Bescheinigungen geltend macht, nach wie vor vollzugsuntauglich zu sein.
Die gem. § 462 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte und gem. §§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde ist nicht begründet.
Das Landgericht hat die Voraussetzungen, unter denen nach § 455 Abs. 2 StPO Strafausstand bewilligt werden kann, zurecht und mit zutreffender Begründung, auf die Bezug genommen wird, verneint.
Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Beurteilung.
Nach der Rechtsprechung des BVerfG gebietet das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, und die Gleichbehandlung aller in Strafverfahren rechtskräftig Verurteilten grundsätzlich zwingend, rechtskräftig erkannte Freiheitsstrafen auch zu vollstrecken ( BVerfGE 51,324; NStZ-RR 03,345). Diese verfassungsrechtliche Pflicht zur Strafvollstreckung findet allerdings ihre Grenzen im Grundrecht des Einzelnen auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG). Der grundrechtliche Konflikt zwischen der Pflicht des Staates zur Strafvollstreckung und dem Interesse des Verurteilten an der Wahrung seines Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist durch Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen (BVerfG a.a.O.). Das ist bei der Auslegung des § 455 StPO, der eine Regelung enthält, unter welchen Voraussetzungen der - mit der Pflicht des Staates einhergehende - staatliche Anspruch auf Strafvollstreckung hinter den Belangen des Verurteilten ggfs zurückstehen muß, zu berücksichtigen.
Die hiernach gebotene Abwägung führt vorliegend nicht zu dem Ergebnis, dass ein Strafaufschub in Betracht kommt.
Nach § 455 Abs. 2 StPO ist Voraussetzung für einen Strafaufschub, daß von der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen ist.
Die Rechtsprechung stellt an diesen Aufschubgrund strenge Anforderungen (vgl. LR-Wendisch § 455, Rn 9 m.w.N.)
Das bei der Beschwerdeführerin bestehende Krankheitsbild als solches erfüllt diese Anforderungen nicht. Die erläuternde Stellungnahme des bei dem Gesundheitsamt der Stadt M. tätigen Facharztes für Psychiatrie Dr. W. vom 29.09.2003, auf die sich die Beschwerdeführerin u.a. beruft, bietet dafür keinerlei Anhalt. Die bei der Beschwerdeführerin bestehende Suizidgefahr ist nach allen zu den Akten gereichten ärztlichen Bescheinigungen ausschließlich im Zusammenhang mit der Frage der Verbüßung der Freiheitsstrafe zu sehen. Auch der Suizidversuch vom 21.02.2003 ist ersichtlich als Reaktion auf die Ladung zum Strafantritt zu werten, die die Beschwerdeführerin im Januar 2003 erhalten hatte. Dabei kommt es auf die Frage, ob der Suizidversuch vom 21.02.2003 als ernsthaft anzusehen war oder nur appelativen Charakter hatte, nicht entscheidend an.
Eine akute, von der Frage der Strafverbüßung unabhängige Erhöhung der Selbstmordgefahr, die ggfs zu einer anderen Bewertung führen könnte, ist aus keiner der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen ersichtlich.
Selbstmordgefahr - auch ernsthafte, wie sie der Verurteilten in der Stellungnahme des Dr. W. vom 29.07.2003 für den Fall der Ankündigung einer Inhaftierung attestiert wird, und die in der Anfangsphase der Haftzeit fortbestehen würde - kommt aber nach im Schrifttum gebilligter Rechtsprechung im allgemeinen als Aufschubgrund nicht in Betracht ( vgl. KG NStZ 94,255; für den Fall der Selbstmorddrohung durch einen nahen Angehörigen auch OLG Köln MDR 85,695; KK-Fischer , StPO, 5.A., § 455 Rn 7; Meyer-Goßner, StPO, 46.A., § 455 Rn 5; LR-Wendisch aaO ) .
Dieser Auffassung schließt sich der Senat an, weil es - wie das Landgericht bereits zutreffend ausgeführt hat - nicht in das Belieben des Verurteilten gestellt werden kann, sich durch Suiziddrohungen dem Strafantritt zu entziehen. Die Lebensgefahr - wenn sie in derartigen Fällen überhaupt als "nah" bezeichnet werden kann - geht dann letztlich nicht von der Vollstreckung, sondern von der suizidgefährdeten Person selbst aus ( ebenso KG aaO).
Auch das BVerfG hat in der erwähnten Entscheidung vom 27.06.03 - NStZ-RR 03, 345 - die Ablehnung der Strafunterbrechung für den Fall als unbedenklich angesehen, daß die Lebensgefahr nicht von der Vollstreckung ausgeht, sondern in der Person des Verurteilten ihre Ursache hat (BVerfG aaO). Für den Fall des Strafaufschubs kann nichts anderes gelten.
Im Strafvollzug selbst kann der Suizidgefahr durch die in § 88 StVollzG vorgesehenen besonderen Sicherungsmaßnahmen begegnet werden, womit zugleich dem grundgesetzlich geschützten Interesse eines rechtskräftig Verurteilten an der Wahrung seiner Gesundheit ausreichend Rechnung getragen ist.
Soweit in der Stellungnahme des Dr. W. vom 29.07.2003 "aus medizinischer Sicht eine Inhaftierung der Verurteilten nicht befürwortet wird" und damit wohl - jedenfalls sinngemäß - Haftfähigkeit verneint wird, kommt es hierauf nicht an. Der ärztlichen Kompetenz unterliegt allein die Feststellung und Beurteilung des Gesundheitszustandes der Verurteilten. Ob die ärztlichen Feststellungen die gesetzlichen Voraussetzungen der Vollzugsuntauglichkeit nach § 455 StPO erfüllen, ist eine allein durch die Gerichte zu entscheidende Frage (vgl. KG aaO).
Was die Belange des Kindes angeht, so hat die Strafvollstreckungskammer ebenfalls zutreffend ausgeführt, dass ihnen durch einen vorübergehenden Vollstreckungsaufschub wegen der "4-Monats-Grenze" nicht Rechnung getragen werden kann, vgl. § 456 Abs. 1 und 2 StPO. Ein Strafaufschub über die Frist des § 456 Abs. 2 StPO kann nur im Gnadenweg bewilligt werden (Meyer-Goßner, aaO, § 456 Rn m.w.N.)
lm übrigen liegt es ganz wesentlich am Verhalten der Verurteilten, ob eine Vollstreckung im offenen Vollzug in Betracht kommt, um auf diese Weise so gut als möglich die Mutter-Kind-Beziehung aufrechtzuerhalten und die Folgen der Trennung abzumildern. Sofern die Strafe im geschlossenen Vollzug vollstreckt werden muß - für welchen Fall angesichts des Alters des Kindes eine gemeinsame Unterbringung mit seiner Mutter ausscheidet, vgl. § 80 StVollzG - wird die Verurteilte in Ausübung ihrer elterlichen Sorge nach Lösungen für die Betreuung des Kindes suchen müssen, wobei an die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie zu denken wäre, wozu ggfs Leistungen der Kinder-und Jugendhilfe nach §§ 32 ff SGB VIII in Anspruch genommen werden können.
Abschließend bemerkt der Senat, dass die Verurteilte seit der erstmaligen Ladung zum Strafantritt nunmehr rd. 2 1/2 Jahre Zeit hatte, sich auf die Vollstreckung der Strafe einzustellen. Ein weiterer Aufschub kann ihr durch gerichtliche Entscheidung nicht mehr bewilligt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.
Meta
25.11.2003
Oberlandesgericht Köln 2. Strafsenat
Beschluss
Sachgebiet: Ws
Zitiervorschlag: Oberlandesgericht Köln, Beschluss vom 25.11.2003, Az. 2 Ws 623/03 (REWIS RS 2003, 556)
Papierfundstellen: REWIS RS 2003, 556
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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.
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