Bundesgerichtshof, Urteil vom 10.05.2017, Az. 2 StR 427/16

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen sowie wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 18 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die Staatsanwaltschaft beanstandet - insoweit gemäß § 301 StPO zu Gunsten des Angeklagten - den Schuldspruch in den Fällen [X.] der Urteilsgründe sowie die Verhängung einer zu niedrigen Gesamtfreiheitsstrafe. Das Rechtsmittel führt zu einer teilweisen Änderung des Schuldspruchs und der Aufhebung der insoweit zugrunde liegenden [X.] sowie des [X.]s.

Das [X.] hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der strafrechtlich nicht vorbelastete Angeklagte lebte seit 1990 mit seiner Ehefrau zusammen, die fünf Kinder mit in die Ehe gebracht hatte, darunter die beiden am 9. Januar 1986 geborenen Zwillinge [X.].   und [X.]. Die Erziehung seiner Stiefsöhne war durch Gewalttätigkeiten und drakonische Strafen geprägt. Zudem war er ab dem Jahre 1996 gegenüber den Zwillingen und dem ein Jahr jüngeren Stiefsohn [X.]sexuell übergriffig.

Im Jahr 1997 erlitt der Angeklagte bei einem schweren Verkehrsunfall eine Fraktur des ersten Lendenwirbelkörpers und ein inkomplettes Querschnittssyndrom mit Blasen- und [X.]stdarmlähmung. Seitdem muss er ständig eine Windel tragen, eine Erektion ist ihm nicht mehr möglich.

Im Einzelnen hat das [X.] folgende Übergriffe auf die Zwillingsbrüder festgestellt:

2. Die Fälle [X.], 2 und 4 - begangen im Zeitraum 8. Januar 1996 bis zum 31. Dezember 1999 - hat die [X.] als sexuellen Missbrauch von Kindern gemäß § 176 Abs. 1 StGB in der bis 2004 gültigen Fassung abgeurteilt, insoweit minder schwere Fälle angenommen, und jeweils Freiheitsstrafen von sechs Monaten verhängt.

Die Fälle [X.] und 10-21 - begangen im Jahr 1999 - hat die [X.] als schweren sexuellen Missbrauch von Kindern gemäß § 176a Abs. 1 StGB in der vom 1. Januar 1999 bis zum 31. März 2004 gültigen Fassung abgeurteilt, insoweit minder schwere Fälle nach § 176a Abs. 3 StGB aF angenommen, und Freiheitsstrafen von jeweils einem Jahr verhängt.

Für die Fälle [X.] - begangen im Zeitraum 1996 bis zum 31. März 1998 - hat das [X.] ebenfalls [X.] von jeweils einem Jahr wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern im minder schweren Fall gemäß § 176a Abs. 1, 3 StGB aF verhängt.

Das Rechtsmittel ist wirksam auf die Fälle [X.] der Urteilsgründe und den [X.] beschränkt.

Die Beschwerdeführerin hat zwar einen unbeschränkten Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Urteils gestellt. Jedoch hält sie das Urteil nur deshalb für rechtsfehlerhaft, weil das [X.] in den Fällen [X.] eine falsche Rechtsnorm angewandt und eine zu niedrige Gesamtfreiheitsstrafe verhängt habe.

Widersprechen sich Revisionsantrag und Inhalt der Revisionsbegründung, ist unter Berücksichtigung von Nr. 156 Abs. 2 [X.] das Angriffsziel durch Auslegung zu ermitteln (st. Rspr.; vgl. [X.]surteile vom 11. Juni 2014 - 2 [X.], BGHR StPO § 344 Abs. 1 Antrag 9 und zuletzt vom 26. April 2017 - 2 StR 47/17). Nach dem insoweit maßgeblichen Sinn der Revisionsbegründung hat die Beschwerdeführerin deutlich zu erkennen gegeben, dass sie sich allein gegen die Verurteilung in den Fällen [X.] sowie den [X.] wendet und mit ihrem Rechtsmittel nicht das Urteil im Übrigen angreifen will.

1. Die Verurteilung in den Fällen [X.] ist rechtsfehlerhaft, weil das [X.] eine falsche Rechtsnorm angewandt hat. Der Qualifikationstatbestand des § 176a StGB ist - was das [X.] ausweislich der Urteilsgründe im Nachhinein selbst erkannt hat - erst aufgrund des [X.] vom 26. Januar 1998 ([X.] I, [X.]) mit Wirkung zum 1. April 1998 in [X.] getreten. Die Missbrauchshandlungen in den Fällen [X.] sind demnach als "einfacher" sexueller Missbrauch abzuurteilen. Der [X.] hat den Schuldspruch entsprechend geändert.

2. Die Schuldspruchänderung bedingt auch - zu Gunsten des Angeklagten - die Aufhebung der in den Fällen [X.] verhängten [X.]. § 176 Abs. 1 2. Halbsatz StGB sah für minder schwere Fälle Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vor, § 176a Abs. 3 StGB in der Fassung bis zum 31. März 2004 hingegen Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Da sich die [X.] bei den verhängten Strafen jeweils an der Untergrenze des zur Verfügung stehenden Strafrahmens orientiert hat, kann der [X.] nicht ausschließen, dass die Anwendung des milderen Rechts in den Fällen [X.] auch zu niedrigeren [X.] geführt hätte; dies gilt auch gerade vor dem Hintergrund, dass das [X.] für die von der [X.] identischen Taten in den Fällen [X.] sowie 10-21 unter Anwendung des verschärften Rechts [X.] von ebenfalls einem Jahr verhängt hat.

Soweit die [X.], die ihren Fehler noch vor Abfassung des Urteils erkannt hat, ihren - schriftlichen - Strafzumessungserwägungen nunmehr den Strafrahmen des § 176 Abs. 1 2. Halbsatz StGB aF zugrunde legt, ist dies unbehelflich. Die schriftlichen Urteilsgründe müssen die Gründe des Gerichts dokumentieren, die in der Bewertung unter Beteiligung der [X.] gewonnen worden sind. Sie dienen dazu, dem Revisionsgericht die Nachprüfung der getroffenen Entscheidung zu ermöglichen. Deshalb ist es unzulässig, zur Absicherung der Entscheidung andere Gründe einzufügen, wie etwa bei Abfassung des Urteils gewonnene neue Erkenntnisse.

3. Der Wegfall der [X.] in den Fällen [X.] führt zur Aufhebung des [X.]s, der im Übrigen auch zu Gunsten des Angeklagten Rechtsfehler aufweist. Die Bildung der Gesamtstrafe ist ein eigenständiger und gemäß § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO im Urteil zu [X.]. Dabei sind an die Begründung der [X.] umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr sich die Strafe der oberen oder unteren Grenze des [X.] nähert. Diesen Anforderungen wird die lediglich formelhafte vierzeilige Begründung des [X.]s nicht gerecht. Neben den bereits für die Einzelstrafen maßgeblichen Kriterien hat die [X.] lediglich den engen zeitlichen, sachlichen und situativen Zusammenhang der gleichartigen Taten berücksichtigt. Die Ausführungen des [X.]s lassen allerdings nicht erkennen, dass es gesamtstrafenspezifische Umstände, wie etwa den Missbrauch von zwei Kindern über einen Zeitraum von vier Jahren, die daraus resultierenden psychischen Beeinträchtigungen und den Missbrauch über die Schutzaltersgrenze hinaus in seine Abwägung einbezogen hat.

Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Die aufgezeigten Rechtsfehler betreffen die festgestellten Strafzumessungstatsachen nicht; diese können deshalb bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen, die den bisherigen nicht widersprechen, sind möglich. Der neu entscheidende Tatrichter wird auch zu erwägen haben, ob angesichts des langen Zeitraums zwischen Erlass und Zustellung des erstinstanzlichen Urteils eine Kompensationsentscheidung veranlasst ist.