3. Senat | REWIS RS 2020, 3437
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Billigkeitserlass bei Kindergeldrückforderung - kein Eingriff in das Recht auf Existenzsicherung
NV: Die Rückforderung von Kindergeld wegen der Verletzung von Mitwirkungspflichten stellt keine Sanktion i.S. der Rechtsprechung des BVerfG dar (vgl. BVerfG-Urteil vom 05.11.2019 - 1 BvL 7/16, BGBl I 2019, 2046, Rz 130). Es fehlt insoweit bereits am Eingriff in das Recht auf Existenzsicherung .
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des [X.] vom [X.] - 4 K 9126/16 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
I.
Die Beteiligten streiten über den [X.] einer Kindergeldrückforderung gemäß § 227 der Abgabenordnung ([X.]) für den [X.]raum von September 2013 bis einschließlich [X.]uli 2014 (Streitzeitraum).
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Mutter der im März 1994 geborenen Tochter [X.] Nach Abschluss ihrer schulischen Laufbahn begann [X.] eine Ausbildung zur Bürokauffrau, die sie im November 2011 unterbrach. Am 13.03.2012 wurde der erste [X.] der [X.] geboren. Die Mutterschutzfrist für [X.] lief bis Mai 2012. Mit Wirkung zum 15.10.2012 wurde der Ausbildungsvertrag der [X.] aufgehoben. Bis zum [X.] nahm [X.] Elternzeit in Anspruch und lebte mit ihrem [X.] bis August 2013 bei der Klägerin. Ab September 2013 zog [X.] in eine eigene Wohnung. Am 10.06.2014 wurde der zweite [X.] der [X.] geboren. Die Mutterschutzfrist für [X.] lief bis August 2014, danach befand sie sich in Elternzeit.
Im Mai 2012 hatte die Klägerin u.a. für [X.] Kindergeld beantragt und dabei angegeben, dass sich [X.] in der [X.] vom 15.08.2011 bis 14.08.2014 in Schul- oder Berufsausbildung befinde bzw. befinden werde. Die Klägerin unterzeichnete mit ihrer eigenhändigen Unterschrift folgenden Text:
"Ich versichere, dass ich alle Angaben wahrheitsgetreu gemacht habe. [X.] ist bekannt, dass ich jede Änderung, die für den Anspruch auf Kindergeld von Bedeutung ist, unverzüglich der Familienkasse mitzuteilen habe. Das Merkblatt über Kindergeld habe ich bereits erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen." |
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Aus den Merkblättern zum Kindergeld für die [X.]ahre 2012 und 2013 geht hervor, dass die Familienkasse unverzüglich zu benachrichtigen ist, wenn ein Kind den Haushalt des [X.] verlässt, ein über 18 [X.]ahre altes Kind seine Schul- oder Berufsausbildung wechselt, beendet oder unterbricht oder schwanger ist und die Mutterschutzfrist beginnt. Mit Bescheid vom 01.06.2012 setzte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) Kindergeld ab April 2012 gegenüber der Klägerin für [X.] in der gesetzlichen Höhe fest. |
Seit dem 01.09.2013 bezog [X.] Leistungen nach dem [X.] ([X.]). Bei der Berechnung des zu berücksichtigenden monatlichen Einkommens wurde das Kindergeld berücksichtigt.
Auf Rückfrage vom 09.07.2014 teilte die Klägerin der Familienkasse zunächst mit, dass die Tochter zwei Kinder zur Welt gebracht habe und sich in Elternzeit befunden habe, später, dass sie die Ausbildung bereits zum 15.10.2012 beendet habe. Mit Bescheid vom 06.10.2014 hob die Familienkasse gegenüber der Klägerin die Kindergeldfestsetzung für [X.] von [X.]uni 2012 bis [X.]uli 2014 gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf und forderte das überzahlte Kindergeld zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass die besonderen Anspruchsvoraussetzungen des § 32 Abs. 4 EStG nicht mehr erfüllt gewesen seien. Der Einspruch hiergegen hatte keinen Erfolg. Während des anschließenden Klageverfahrens erließ die Familienkasse einen Änderungsbescheid, durch den die Kindergeldfestsetzung nur noch für die [X.] von November 2012 bis [X.]uli 2014 aufgehoben und das Kindergeld insoweit zurückgefordert wurde. Der Rechtsstreit endete mit einer Erledigung der Hauptsache.
Mit Schreiben vom 06.11.2015 beantragte die Klägerin den Erlass der Kindergeldrückforderung aus Billigkeitsgründen, soweit diese den [X.]raum September 2013 bis [X.]uli 2014 betraf. Ein [X.] sei gerechtfertigt, da das Kindergeld bei der Berechnung der Höhe der Leistungen nach dem [X.] als Einkommen angesetzt worden sei und eine nachträgliche Korrektur dieser Leistungen nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht möglich sei.
Die Familienkasse lehnte den Erlassantrag mit Bescheid vom 10.05.2016 ab. Einspruch und Klage hiergegen hatten keinen Erfolg. Das Urteil des Finanzgerichts ([X.]) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte ([X.]) 2019, 1734 veröffentlicht.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung von Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Sie ist der Ansicht, das [X.] habe die unzureichende Zusammenarbeit der Behörden im Dreiecksverhältnis zwischen Leistungsempfänger, Familienkasse und Sozialleistungsträger entgegen dem Rechtsgedanken des § 86 des [X.] nicht ausreichend berücksichtigt.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 10.05.2016 sowie der Einspruchsentscheidung vom 01.07.2016 die Familienkasse zu verpflichten, die Rückforderung von Kindergeld gegen die Klägerin für die [X.] von September 2013 bis [X.]uli 2014 zu erlassen.
Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision der Klägerin ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 [X.]O). Das [X.] hat zutreffend entschieden, dass die Ablehnung des beantragten [X.] durch die Familienkasse nicht zu beanstanden ist.
1. Die Entscheidung über den Erlass ist eine Ermessensentscheidung der Behörde (grundlegend: Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des [X.] vom 19.10.1971 - [X.] 3/70, [X.], 101, [X.] 1972, 603). Dem folgt die ständige Rechtsprechung des [X.]finanzhofs ([X.]) zu § 227 AO (z.B. [X.]-Urteile vom 18.09.2018 - XI R 36/16, [X.]E 262, 297, [X.] 2019, 87, Rz 27, und vom 13.09.2018 - III R 19/17, [X.]E 262, 483, [X.] 2019, 187, Rz 13). Im finanzgerichtlichen Verfahren kann die behördliche Ermessensentscheidung nach § 102 [X.]O nur daraufhin überprüft werden, ob die Grenzen der Ermessensausübung eingehalten worden sind (Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 102 Rz 15, m.w.N.).
2. Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen i.S. des § 227 AO ist anzunehmen, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, aber nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist oder dessen Wertungen zuwiderläuft (sog. Gesetzesüberhang, vgl. Senatsurteile in [X.]E 262, 483, [X.] 2019, 187, Rz 13; vom 13.09.2018 - III R 48/17, [X.]E 262, 488, [X.] 2019, 189, Rz 13, und vom 20.02.2019 - III R 28/18, [X.]/NV 2019, 825, Rz 12, jeweils m.w.N.).
3. Das [X.] ging in der Vorentscheidung zu Recht davon aus, dass bei einer Mitwirkungspflichtverletzung der Klägerin kein Anspruch auf [X.] gemäß § 227 AO besteht.
a) Allein der Umstand, dass das Kindergeld im Streitfall auf die von [X.] bezogenen Sozialleistungen angerechnet wurde, verpflichtet die Familienkasse nicht zu einem [X.]. Die Anrechnung kann nach der Rechtsprechung der Sozialgerichte nicht rückabgewickelt werden, weil es allein auf den tatsächlichen Zufluss des Kindergeldes beim Sozialleistungsempfänger ankommt und die nachträgliche Gewährung von Sozialleistungen ausgeschlossen ist. Es fehlt zwar eine gesetzliche Regelung der systemübergreifenden Rückabwicklung von zu Unrecht gewährtem Kindergeld, das auf Sozialleistungen angerechnet wurde. Dies ist jedoch noch kein Grund, in einschlägigen Fällen einen [X.] als zwingend anzusehen (Senatsurteile in [X.]E 262, 483, [X.] 2019, 187, Rz 17; in [X.]E 262, 488, [X.] 2019, 189, Rz 17; vom 08.11.2018 - III R 31/17, [X.]/NV 2019, 557, Rz 16, und in [X.]/NV 2019, 825, Rz 14, jeweils m.w.N.). Ein Anspruch auf [X.] kann in Betracht kommen, wenn der Kindergeldberechtigte seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen ist, der Rückforderungsanspruch aber durch ein Verschulden oder eine fehlerhafte Arbeitsweise der Behörden entstanden ist (vgl. Senatsurteile in [X.]E 262, 488, [X.] 2019, 189, Rz 16, und in [X.]E 262, 483, [X.] 2019, 187, Rz 21). Diese Sichtweise entspricht auch der sozialgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. [X.] vom 23.08.2011 - B 14 AS 165/10 R, [X.], 470, Rz 26).
b) Dem steht auch nicht das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes) entgegen. Ein Erlass ist nicht von Verfassungs wegen geboten. Denn die Rückforderung beruht im Streitfall nicht auf einer unzureichenden Ausgestaltung einer gerechten [X.], sondern auf der Mitwirkungspflichtverletzung der Klägerin (Senatsurteil in [X.]/NV 2019, 557, Rz 19, m.w.N.). Darüber hinaus stellt sie keine Sanktion i.S. der Rechtsprechung des [X.]verfassungsgerichts ([X.]) dar (vgl. [X.]-Urteil vom 05.11.2019 - 1 BvL 7/16, [X.], 2046, Rz 130). Es fehlt insoweit bereits am Eingriff in das Recht auf Existenzsicherung.
4. Die Entscheidung des [X.] entspricht diesen Grundsätzen. Das [X.] hat die Klageabweisung rechtsfehlerfrei damit begründet, dass bei der Würdigung und Abwägung der Versäumnisse der Klägerin kein Anspruch auf Erlass der [X.] besteht. Denn die Klägerin hat nach den Feststellungen des [X.] die Familienkasse nicht über die Beendigung der Ausbildung der Tochter und über deren Schwangerschaft informiert und erst nach Aufforderung die für die --richtige-- Kindergeldfestsetzung maßgeblichen Umstände mitgeteilt; demgegenüber hat sich die Familienkasse an die gesetzlichen Vorgaben gehalten.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 2 [X.]O.
Meta
23.01.2020
Urteil
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 24. Januar 2019, Az: 4 K 9126/16, Urteil
Zitiervorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 23.01.2020, Az. III R 16/19 (REWIS RS 2020, 3437)
Papierfundstellen: REWIS RS 2020, 3437
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