Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 15.09.2022, Az. 10 AZB 11/22

10. Senat | REWIS RS 2022, 5056

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Gegenstand

Sofortige Beschwerde - verspätete Absetzung Berufungsurteil - Beginn Fünfmonatsfrist


Tenor

1. Auf die Beschwerde der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 5. Januar 2022 - 5 [X.]/21 - aufgehoben.

2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Die sofortige [X.]eschwerde nach § 72b Abs. 1 ArbGG ist zulässig und begründet.

2

I. Die Parteien streiten über die Höhe angemessener Nachtarbeitszuschläge. Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das [X.] hat die hiergegen gerichtete [X.]erufung der [X.]eklagten mit Urteil vom 5. Januar 2022 zurückgewiesen und die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Mit Gründen versehen ist es am 10. Juni 2022 bei den Prozessbevollmächtigten der [X.]eschwerdeführerin eingegangen. Auf Nachfrage beim [X.] hat der stellvertretende Vorsitzende der 5. Kammer mitgeteilt, das „komplett unterschriebene Urteil“ sei am 7. Juni 2022 an die Geschäftsstelle übergeben worden. Mit ihrer sofortigen [X.]eschwerde nach § 72b ArbGG begehrt die [X.]eklagte die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung der Sache an das [X.].

3

II. Die sofortige [X.]eschwerde hat Erfolg. Das Urteil des [X.]s ist nicht binnen fünf Monaten nach der Verkündung vollständig abgefasst und mit den Unterschriften sämtlicher Mitglieder der Kammer versehen der Geschäftsstelle übergeben worden, § 72b Abs. 1 ArbGG.

4

1. Gemäß § 72b Abs. 1 Satz 1 ArbGG kann das Urteil eines [X.]s durch sofortige [X.]eschwerde angefochten werden, wenn es nicht binnen fünf Monaten nach der Verkündung vollständig abgefasst und mit den Unterschriften sämtlicher Mitglieder der Kammer versehen der Geschäftsstelle übergeben worden ist. Die sofortige [X.]eschwerde ist innerhalb einer Notfrist von einem Monat einzulegen und zu begründen; die Frist beginnt mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung des Urteils, § 72b Abs. 2 ArbGG.

5

2. Danach ist die sofortige [X.]eschwerde zulässig und begründet.

6

a) Die sofortige [X.]eschwerde der [X.]eklagten ist statthaft; die Frist- und Formvorschriften nach § 72b Abs. 2 und Abs. 3 ArbGG wurden eingehalten.

7

b) Die sofortige [X.]eschwerde ist auch begründet. Es lag bis zum Ablauf der [X.] des § 72b Abs. 1 Satz 1 ArbGG kein vollständig abgefasstes, mit den Unterschriften sämtlicher Mitglieder der Kammer versehenes Urteil bei der Geschäftsstelle des [X.]s vor.

8

aa) Das Urteil des [X.]s Köln ist am 5. Januar 2022 verkündet worden. In der Verfahrensakte ist lediglich eine Verfügung und ein Abvermerk vom 8. Juni 2022 enthalten, denen entnommen werden kann, dass an diesem Tag Urteilsabschriften an die Parteien abgesandt wurden. Ob das vollständige Urteil an diesem Tag oder - wie vom stellvertretenden Vorsitzenden der Kammer mitgeteilt - bereits am Vortag, dem 7. Juni 2022, zur Geschäftsstelle gelangte, lässt sich der Akte aber nicht entnehmen. Weder befindet sich ein Datumsstempel der Geschäftsstelle in der Akte, mit dem der Eingang dokumentiert wäre, noch ein sonstiger Vermerk, dass bereits an diesem Tag das Urteil vollständig abgefasst und mit den Unterschriften sämtlicher Mitglieder der Kammer versehen der Geschäftsstelle übergeben wurde.

9

bb) Selbst wenn aber das vollständig abgefasste, unterschriebene Urteil am 7. Juni 2022 an die Geschäftsstelle gelangt ist, ist die [X.] nicht gewahrt. Diese endete am 5. Juni 2022, obwohl dies ein Sonntag und der 6. Juni 2022 ein Feiertag ([X.]) war. § 222 Abs. 2 ZPO ist auf die [X.] des § 72b ArbGG nicht anwendbar (vgl. [X.] 17. Februar 2000 - 2 [X.] - zu 2 der Gründe mwN, [X.]E 93, 360; [X.]SG 17. Februar 2009 - [X.] 2 [X.]/08 [X.] - mwN; [X.]/[X.]/[X.] 6. Aufl. § 72b Rn. 14; [X.]/[X.]/[X.] ArbGG 5. Aufl. § 72b Rn. 18; [X.]/[X.] § 72b ArbGG Rn. 6; [X.]/Müller-Glöge 10. Aufl. § 72b Rn. 25).

(1) Aus Gründen der Rechtssicherheit ist die [X.] für die nachträgliche Abfassung, Unterzeichnung und Übergabe des bei Verkündung noch nicht vollständig abgefassten Urteils auf längstens fünf Monate begrenzt. Dabei handelt es sich um eine starre, sog. uneigentliche Frist, die den [X.]raum, der für die nachträgliche Niederlegung der schriftlichen [X.] zur Verfügung steht, strikt limitiert (vgl. [X.] 17. Februar 2000 - 2 [X.] - zu 2 der Gründe mwN, [X.]E 93, 360; [X.]SG 17. Februar 2009 - [X.] 2 [X.]/08 [X.] - mwN). Damit würde sich die Anwendung von § 222 Abs. 2 ZPO nicht vertragen. Die Frist dient allein der technischen [X.]estimmung des [X.]punkts des [X.]eginns der Rechtsmittelfrist. Sie tritt an die Stelle der Zustellung des Urteils und richtet sich an den Vorsitzenden der Kammer, ist aber keine von den Prozessbeteiligten einzuhaltende Geltendmachungsfrist. Insoweit ist es unmaßgeblich, ob der letzte Tag der [X.] ein Samstag, Sonntag oder ein gesetzlicher Feiertag ist. Die [X.] hat nicht den Sinn, dass der [X.]erufungsrichter, der nach § 69 Abs. 1 Satz 2, § 60 Abs. 4 Satz 3 ArbGG das vollständig abgefasste und unterschriebene Urteil innerhalb von vier Wochen der Geschäftsstelle zu übergeben hat, die Frist unter Einbeziehung von Wochenende und Feiertagen bis zum letzten Tag ausnutzen kann. Die [X.] soll vielmehr der Gefahr Rechnung tragen, dass die [X.]eurkundungsfunktion wegen des mit größer werdendem [X.]abstand zwischen Urteilsberatung und Abfassung der Urteilsgründe immer mehr abnehmenden Erinnerungsvermögens im Einzelfall nicht mehr gewahrt ist. Es soll sichergestellt werden, dass die in das niedergelegte Urteil aufgenommenen Entscheidungsgründe mit den Gründen übereinstimmen, die nach dem Ergebnis der auf die mündliche Verhandlung folgenden Urteilsberatung für die richterliche Überzeugung und für die von dieser getragenen Entscheidung maßgeblich waren (vgl. [X.] 17. Februar 2000 - 2 [X.] - zu 2 der Gründe mwN, [X.]E 93, 360; [X.]SG 17. Februar 2009 - [X.] 2 [X.]/08 [X.] - mwN; auch [X.]VerfG 26. März 2001 - 1 [X.]vR 383/00 - zu [X.] I 2 c cc der Gründe; 27. April 2005 - 1 [X.]vR 2674/04 - zu II 2 der Gründe).

(2) Hierfür spricht auch die Entstehungsgeschichte der Norm. Die sofortige [X.]eschwerde nach § 72b ArbGG wurde eingeführt in Reaktion auf den [X.]eschluss des [X.]undesverfassungsgerichts vom 26. März 2001 (- 1 [X.]vR 383/00 -). Das [X.]undesverfassungsgericht hatte festgestellt, dass eine rechtsstaatliche Urteilsbegründung nicht mehr möglich sei, wenn die Entscheidungsgründe eines [X.]erufungsurteils nach Ablauf von fünf Monaten nach seiner Verkündung noch nicht abgesetzt seien ([X.]VerfG 26. März 2001 - 1 [X.]vR 383/00 - zu [X.] I 2 c der Gründe). Dies sei ein aus rechtsstaatlicher Sicht auf Dauer schwer hinnehmbarer Zustand. Mit Überschreiten der [X.] stehe endgültig fest, dass eine rechtsstaatlich unbedenkliche Urteilsbegründung durch das [X.] nicht mehr erfolgen könne ([X.]VerfG 26. März 2001 - 1 [X.]vR 383/00 - zu [X.] I 2 c dd der Gründe). Die neue [X.]eschwerderegelung in § 72b ArbGG sollte nach dem Willen des Gesetzgebers als Reaktion auf diese Entscheidung ein einfaches und schnelleres Verfahren eröffnen, um die Sache so bald wie möglich vor dem [X.] erneut verhandeln zu können und eine mit Gründen versehene Entscheidung zu erhalten ([X.]T-Drs. 15/3706 S. 21). Hiermit verträgt es sich - auch vor dem Hintergrund der [X.]eschleunigungsvorschriften ua. in § 69 Abs. 1 Satz 2, § 60 Abs. 4 Satz 3 ArbGG - nicht, den [X.]punkt des [X.]eginns der [X.]eschwerdefrist nach § 72b Abs. 2 Satz 1 ArbGG auf den nächsten Werktag hinauszuschieben, wenn das Ende der [X.] nach § 72b Abs. 1 Satz 1 ArbGG auf einen Samstag, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag fällt.

3. Das [X.]erufungsurteil war nach § 72b Abs. 5 Satz 1 ArbGG aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen. Für die von der [X.]eklagten begehrte Zurückverweisung der Sache an eine andere Kammer des [X.]s (§ 72b Abs. 5 Satz 2 ArbGG) hat der [X.] keinen Anlass gesehen.

        

    Günther-Gräff    

        

    [X.]    

        

    Nowak    

        

        

        

             

        

             

                 

Meta

10 AZB 11/22

15.09.2022

Bundesarbeitsgericht 10. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AZB

vorgehend ArbG Köln, 1. September 2020, Az: 6 Ca 8536/19, Urteil

§ 72b ArbGG, § 222 Abs 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 15.09.2022, Az. 10 AZB 11/22 (REWIS RS 2022, 5056)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 5056 NJW 2022, 3732 REWIS RS 2022, 5056


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 6 Ca 8536/19

Arbeitsgericht Köln, 6 Ca 8536/19, 01.09.2020.


Az. 5 Sa 121/21

Landesarbeitsgericht Köln, 5 Sa 121/21, 05.01.2022.


Az. 10 AZB 11/22

Bundesarbeitsgericht, 10 AZB 11/22, 15.09.2022.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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