Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 08.12.2021, Az. 2 BvR 1282/21

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2021, 534

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Unzureichende Sachaufklärung im Auslieferungsverfahren verletzt Anspruch des Betroffenen auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 S 1 GG) - hier: Auslieferung an die Russische Föderation - unzureichende Prüfung einer Gefahr politischer Verfolgung sowie unmenschlicher Haftbedingungen - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 5. Juli 2021 - III - 4 AR 57/21 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes, soweit die Auslieferung für zulässig erklärt wurde; er wird in diesem Umfang aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das [X.] und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das [X.] auf 15.000 (in Worten: fünfzehntausend) [X.] und für das einstweilige Anordnungsverfahren auf 7.500 (in Worten: siebentausendfünfhundert) [X.] festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung eines [X.] Staatsangehörigen zum Zwecke der Strafverfolgung in die [X.] Föderation.

2

1. Dem Beschwerdeführer wird in dem dem Auslieferungsverfahren zugrundeliegenden Haftbefehl des [X.] vom 3. Februar 2017 vorgeworfen, als alleiniger Anteilseigner einer Aktiengesellschaft (ein Fischverarbeitungsbetrieb) gemeinschaftlich handelnd mit zwei weiteren Personen zwischen März 2014 und Januar 2016 Abgaben und Steuerrückstände des Unternehmens nicht beglichen und die Pfändung von Unternehmenskonten vereitelt zu haben. Ferner soll er mit der Absicht der Gläubigerbenachteiligung Immobilienvermögen einer insolventen Gesellschaft an eine weitere Gesellschaft übertragen haben. Mit Schreiben vom 14. Juni 2017 ersuchte die Generalstaatsanwaltschaft der [X.]n Föderation um die Auslieferung des Beschwerdeführers. Dieser erklärte sich mit einer Auslieferung im vereinfachten Verfahren nicht einverstanden und verzichtete nicht auf die Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität.

3

2. Mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2020 erklärte der Beschwerdeführer, dass er aus politischen Gründen verfolgt werde und die Tatvorwürfe inszeniert seien. Das Strafverfahren diene lediglich dazu, ihn aus seiner Eigentümerstellung zu verdrängen, um die Aktiengesellschaft zum [X.] verstaatlichen zu können. Unter Mitwirkung des zuständigen Gouverneurs der [X.] sei in einer Fernsehsendung mit dem [X.] Präsidenten im April 2016 bewusst die Falschmeldung lanciert worden, die Aktiengesellschaft habe monatelang keine Löhne an die Arbeiter ausbezahlt, obwohl diese rechtzeitig gezahlt worden seien. Dieses Vorgehen habe wie beabsichtigt zur Folge gehabt, dass die Aktiengesellschaft nur wenige Tage später insolvent gewesen sei. Auch der Vorwurf der Steuerhinterziehung sei unberechtigt. Auf Nachfrage bei den Finanzbehörden, welche Steuerschulden im Januar 2016 bestanden haben sollen, sei im Juli 2020 mitgeteilt worden, dass diese nur in Höhe von umgerechnet etwa 1.000 Euro bestanden hätten und zwischenzeitlich vollständig beglichen worden seien. Zudem seien die ihm zur Last gelegten Delikte bereits verjährt, was auch die [X.] Justiz erkannt habe. Denn nachdem seiner angeblichen Mittäterin zunächst dieselben Delikte vorgeworfen und sie zu einer Geldstrafe von umgerechnet 1.500 Euro verurteilt worden sei, habe das [X.] Berufungsgericht durch Urteil vom 21. Februar 2019 den Eintritt der Verjährung festgestellt. Es bestehe auch die Gefahr unmenschlicher beziehungsweise erniedrigender Haftbedingungen, da ihm kein individueller Haftraum von mindestens 3 m² zur Verfügung stehen werde und unangemessene Haftbedingungen in [X.] ein offensichtlich wiederkehrendes sowie weit verbreitetes Problem seien.

4

3. Die Generalstaatsanwaltschaft der [X.]n Föderation teilte mit Schreiben vom 24. August 2020 und 21. Mai 2021 mit, dass zugesichert werde, dass das Auslieferungsersuchen nicht der politischen Verfolgung diene. Die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Straftaten seien nicht mit einer politischen Tätigkeit innerhalb [X.]s verbunden, weshalb die Strafverfolgung nicht politisch motiviert sei. Ihm würden alle Verteidigungsmöglichkeiten gewährt, und er werde keiner Folter, unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 und Art. 6 der [X.] ([X.]) ausgesetzt sein. Er werde in einer Anstalt untergebracht sein, die den Anforderungen der [X.] und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen entspreche. Die Beamten der [X.] Botschaft oder des Konsulats dürften ihn während der Haft besuchen.

5

In der Untersuchungshaft werde der individuelle Haftraum mindestens 4 m² und im allgemeinen Strafvollzug mindestens 3 m² betragen. In der [X.] im [X.] bestehe keine Überbelegung. Der Beschwerdeführer werde in einem 17 m² großen Raum (ohne Einberechnung der [X.]) für vier Personen untergebracht. Dieser Raum sei mit zwei Doppelstockbetten, Spiegel, Regal, Tageslicht- und Nachtbeleuchtung, abgetrenntem Sanitärraum mit WC und Waschbecken, Heizkörper sowie einem Kalt- und Heißwasseranschluss, Trinkwasserbehälter und [X.] ausgestattet. Mindestens einmal die Woche bestehe die Möglichkeit zu duschen und wöchentlich werde die Bettwäsche gewechselt. Im Strafvollzug werde der Beschwerdeführer im Gebiet [X.] in einer Haftanstalt im Bereich Nr. 11 untergebracht. Eine Überbelegung bestehe dort ebenfalls nicht. Im Bereich Nr. 11 seien derzeit 79 Personen auf einer Gesamtfläche (Hafträume, [X.] für die Erziehungsarbeit, Räume zur Aufbewahrung von Gegenständen, Speisezimmer, Waschraum sowie Sanitärräume und sonstige Räumlichkeiten, in denen sich die Gefangenen tagsüber bewegen können) von 252,2 m² untergebracht. Es bestehe [X.] die Woche die Möglichkeit zu duschen und die Leib- und Bettwäsche werde wöchentlich gewechselt. Die Straftaten seien nicht verjährt. Die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Delikte seien Fälle leichter Kriminalität, deren Verjährung durch die Fahndungsausschreibung mit Beschluss vom 19. April 2016 gehemmt worden sei.

6

4. Mit angegriffenem Beschluss vom 5. Juli 2021 erklärte das [X.] die Auslieferung für zulässig. Die Straftaten seien auslieferungsfähig. Die fiskalischen Straftaten seien sowohl nach [X.] als auch nach [X.]m Recht strafbar. Es liege weder eine politische Verfolgung vor, noch sei ein Verjährungseintritt gegeben, da dies die [X.] Behörden mit den Schreiben vom 24. August 2020 und 21. Mai 2021 zugesichert hätten. Auch ein Verstoß gegen Art. 3 [X.] sei nicht ersichtlich. Mit Schreiben vom 24. August 2020 hätten die [X.] Behörden zugesichert, dass der Beschwerdeführer menschenrechtskonform behandelt und untergebracht werde. Mit Schreiben vom 21. Mai 2021 sei konkret mitgeteilt worden, in welchen Haftanstalten er während der Quarantänezeit und Untersuchungshaft sowie im Falle seiner Verurteilung untergebracht werde. Daraus ergebe sich die "völkerrechtlich verbindliche, individuell auf den [Beschwerdeführer] bezogene Zusicherung, dass ihm während des gesamten Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahrens ein individueller Anteil von mindestens 3 m² im Haftraum garantiert" werde.

7

1. Mit der am 21. Juli 2021 fristgemäß eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG.

8

Unter Wiederholung seines fachgerichtlichen Vortrags führt er aus, dass ein Fall politischer Verfolgung gegeben sei. Es habe gegen ihn ein Komplott unter Mitwirkung der politischen Führung der [X.]n Föderation gegeben. Sein bisheriger wirtschaftlicher Konkurrent, der Gouverneur der Oblast, und mittelbar auch der [X.] Ministerpräsident hätten wirtschaftliche Vorteile durch die Übernahme seiner Fischverarbeitungsfabrik erhalten. Im fachgerichtlichen Verfahren habe er die Ereignisse und Umstände, weshalb er "Opfer dieses politischen Systems" der [X.]n Föderation geworden sei und eine "politische Inszenierung und Instrumentalisierung" vorliege, konkret und detailliert geschildert. Dennoch habe das [X.] den Sachverhalt weder ausreichend aufgeklärt noch eigenständig geprüft, sondern allein auf die pauschale Mitteilung der [X.] Behörden abgestellt, dass keine politische Verfolgung vorliege. Auch die Erklärungen der [X.] Behörden zu den möglichen Haftbedingungen seien lediglich allgemein gehalten und als solche nicht aussagekräftig. Jedenfalls habe es das [X.] unterlassen, die Belastbarkeit der Zusicherungen zu prüfen.

9

2. Zur [X.] hat die [X.] des Zweiten Senats mit Beschluss vom 28. Juli 2021 die Übergabe des Beschwerdeführers an die [X.] Behörden bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilig untersagt.

3. Dem [X.] des [X.] ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.

4. Dem [X.] haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an. Dies ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das [X.] bereits entschieden. Demnach ist die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]).

1. Die angegriffene Entscheidung vom 5. Juli 2021 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, weil das [X.] die Gefahr des Beschwerdeführers, im [X.] politisch verfolgt zu werden und unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt zu sein, nicht hinreichend aufgeklärt hat.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des [X.]s unterliegen die [X.] Gerichte bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Auslieferung der verfassungsrechtlichen Pflicht zu prüfen, ob die erbetene Auslieferung die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 und Art. 20 GG unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz verletzt (vgl. [X.] 59, 280 <282 f.>; 63, 332 <337>; 108, 129 <136>; 140, 317 <355 Rn. 83 f.>). Sie sind zudem − insbesondere im Auslieferungsverkehr mit [X.], die nicht Mitgliedstaaten der [X.] sind − verpflichtet zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte den nach Art. 25 GG in der [X.] verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren (vgl. [X.] 59, 280 <282 f.>; 63, 332 <337 f.>; 75, 1 <19>; 108, 129 <136>; 113, 154 <162>).

Gemäß Art. 25 GG sind bei der Auslegung und Anwendung von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts durch Verwaltungsbehörden und Gerichte die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu beachten. Hieraus folgt insbesondere, dass die Behörden und Gerichte grundsätzlich daran gehindert sind, innerstaatliches Recht in einer Weise auszulegen und anzuwenden, welche die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verletzt. Sie sind auch verpflichtet, alles zu unterlassen, was einer unter Verstoß gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts vorgenommenen Handlung [X.] Hoheitsträger im Geltungsbereich des Grundgesetzes Wirksamkeit verschafft, und gehindert, an einer gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden Handlung [X.] Hoheitsträger bestimmend mitzuwirken (vgl. [X.] 75, 1 <18 f.>).

b) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. [X.] 67, 43 <58>; [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 30. Juni 2015 - 2 BvR 1206/13 -, Rn. 19, und vom 30. November 2016 - 2 BvR 1519/14 -, Rn. 33). Dabei gewährleistet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern verleiht dem Einzelnen, der behauptet, durch einen Akt öffentlicher Gewalt verletzt zu sein, oder im Auslieferungsverfahren im Vorgriff einer belastenden hoheitlichen Maßnahme geltend macht, diese würde in unzulässiger Weise in seine Rechte eingreifen, einen substantiellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. [X.] 101, 106 <122 f.>; 103, 142 <156>; 113, 273 <310>; 129, 1 <20>).

Die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen kann die Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten Interessen nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht (vgl. [X.] 101, 275 <294 f.>; [X.]K 9, 390 <395>; 9, 460 <463>; 13, 472 <476>; 13, 487 <493>; 17, 429 <430 f.>; 19, 157 <164>; 20, 107 <112>). Im Rahmen des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens im Vorgriff auf eine Auslieferung sind die zuständigen Gerichte verpflichtet, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären und etwaige Auslieferungshindernisse in hinreichender Weise, also in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig, zu prüfen. Zweck der gerichtlichen Zulässigkeitsprüfung im förmlichen Auslieferungsverfahren ist der präventive Rechtsschutz der betroffenen Person (vgl. [X.] 113, 273 <312>). Das gerichtliche Zulässigkeitsverfahren dient der Abwehr staatlicher Eingriffe in grundrechtlich geschützte Interessen des [X.] (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 22. November 2019 - 2 BvR 517/19 -, Rn. 33, und vom 4. Dezember 2019 - 2 BvR 1832/19 -, Rn. 39; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 19. März 2021 - 2 BvR 408/21 -, Rn. 37).

c) Nicht nur im [X.] unter Mitgliedstaaten der [X.], sondern auch im allgemeinen völkerrechtlichen Auslieferungsverkehr gilt der Grundsatz, dass dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtshilfe in Strafsachen sowie des Völkerrechts Vertrauen entgegenzubringen ist (vgl. [X.] 109, 13 <35 f.>; 109, 38 <61>; 140, 317 <349 Rn. 68>). Auch im allgemeinen Auslieferungsverkehr hat der ersuchende Staat ein erhebliches Interesse an der Aufrechterhaltung und Funktionsfähigkeit der gegenseitigen Rechtshilfe. Von der Begehung von Rechtsverletzungen, die die zukünftige Funktionsfähigkeit des Auslieferungsverkehrs zwangsläufig beeinträchtigen würden, wird ein ersuchender Staat schon deshalb regelmäßig Abstand nehmen (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 22. November 2019 - 2 BvR 517/19 -, Rn. 35, und vom 4. Dezember 2019 - 2 BvR 1832/19 -, Rn. 42).

Dieser Grundsatz kann so lange Geltung beanspruchen, wie er nicht durch entgegenstehende Tatsachen, etwa systemische Defizite im [X.], erschüttert wird (vgl. [X.] 109, 13 <35 f.>; 109, 38 <61>). Das ist der Fall, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass im Fall einer Auslieferung die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz oder der verbindliche völkerrechtliche Mindeststandard gemäß Art. 25 GG nicht eingehalten werden. Dafür müssen stichhaltige Gründe gegeben sein, nach denen gerade im konkreten Fall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass in dem ersuchenden Staat die Mindeststandards nicht beachtet werden (vgl. [X.] 140, 317 <350 Rn. 71>; vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 22. November 2019 - 2 BvR 517/19 -, Rn. 36, und vom 4. Dezember 2019 - 2 BvR 1832/19 -, Rn. 43).

d) Die vom ersuchenden Staat im Auslieferungsverkehr gegebenen völkerrechtlich verbindlichen Zusicherungen sind grundsätzlich geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird (vgl. [X.] 63, 215 <224>; 109, 38 <62>; [X.]K 2, 165 <172 f.>; 3, 159 <165>; 6, 13 <19>; 6, 334 <343>; 13, 128 <136>; 13, 557 <561>; 14, 372 <377 f.>; stRspr). Eine Zusicherung entbindet das über die Zulässigkeit einer Auslieferung befindende Gericht jedoch nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um die Situation im [X.] und so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 30. Oktober 2019 - 2 BvR 828/19 -, Rn. 44, und vom 4. Dezember 2019 - 2 BvR 1832/19 -, Rn. 45).

2. Nach diesen Maßstäben hält die angegriffene Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Sowohl die Überprüfung einer Gefahr politischer Verfolgung im [X.] (a) als auch die Prüfung der zu erwartenden Haftbedingungen (b) genügt den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG nicht.

a) aa) Das gerichtliche Zulässigkeitsverfahren im Allgemeinen und die Prüfung der Gefahr politischer Verfolgung im [X.] im Besonderen dienen der Abwehr staatlicher Eingriffe in grundrechtlich geschützte Interessen des [X.]. Wird eine Auslieferung vollzogen, obwohl die Gefahr besteht, dass der Betroffene im [X.] politisch verfolgt wird, so verstößt sie jedenfalls gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG. Auslegung und Anwendung des § 6 Abs. 2 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen ([X.]) oder entsprechender auslieferungsvertraglicher Regelungen wie Art. 3 Nr. 2 des [X.] ([X.]) durch die [X.]e haben dem Rechnung zu tragen und eine wirksame gerichtliche Kontrolle sicherzustellen. Selbst wenn im konkreten Fall aus Art. 16a Abs. 1 GG kein Asylanspruch folgen sollte, muss der Grundgedanke dieser Norm, Schutz vor politischer Verfolgung im [X.] zu bieten, Berücksichtigung finden (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 13. November 2017 - 2 BvR 1381/17 -, Rn. 28, vom 22. Oktober 2019 - 2 BvR 1661/19 -, Rn. 39, vom 30. Oktober 2019 - 2 BvR 828/19 -, Rn. 40, und vom 4. Dezember 2019 - 2 BvR 1832/19 -, Rn. 40).

Soweit Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung im [X.] bestehen, sind die zuständigen Stellen in Auslieferungssachen verpflichtet, im Rahmen von § 6 Abs. 2 [X.] oder einer entsprechenden auslieferungsvertraglichen Regelung (z.B. Art. 3 Nr. 2 [X.]) eigenständig zu prüfen, ob dem Betroffenen im Fall seiner Auslieferung politische Verfolgung droht (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, Rn. 17, vom 9. April 2015 - 2 BvR 221/15 -, Rn. 12, vom 9. März 2016 - 2 BvR 348/16 -, Rn. 12, und Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. Dezember 2019 - 2 BvR 1832/19 -, Rn. 41). Dies folgt verfassungsrechtlich aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, den in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG geschützten materiellen Rechtspositionen, die insoweit dem Grundgedanken des Art. 16a Abs. 1 GG entsprechen, sowie einfachrechtlich aus § 6 Abs. 2 [X.] beziehungsweise den entsprechenden auslieferungsvertraglichen Vorschriften (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 13. November 2017 - 2 BvR 1381/17 -, Rn. 29, und vom 4. Dezember 2019 - 2 BvR 1832/19 -, Rn. 41). Die für die Zulässigkeitsentscheidung zuständigen Gerichte müssen bei entsprechenden Anhaltspunkten einer Gefahr politischer Verfolgung im [X.] die ihnen möglichen Ermittlungen zur Aufklärung der behaupteten Gefahr veranlassen und den Sachverhalt eigenständig würdigen. Soweit nach dieser Prüfung ernstliche Gründe für die Annahme einer politischen Verfolgung im [X.] sprechen, hat das Gericht die beantragte Auslieferung grundsätzlich für unzulässig zu erklären (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 13. November 2017 - 2 BvR 1381/17 -, Rn. 29, vom 22. Oktober 2019 - 2 BvR 1661/19 -, Rn. 42, vom 30. Oktober 2019 - 2 BvR 828/19 -, Rn. 41, und vom 4. Dezember 2019 - 2 BvR 1832/19 -, Rn. 41).

Stellt sich im Rahmen dieser Prüfung etwa heraus, dass die tatsächlichen Gegebenheiten im [X.] erheblich von dem zugesicherten Verhalten abweichen, ist dies geeignet, die Frage aufzuwerfen, ob das zugesicherte Verhalten überhaupt geleistet werden kann und die abgegebene Zusicherung belastbar ist (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 18. Juni 2019 - 2 BvR 1092/19 -, Rn. 13, vom 22. November 2019 - 2 BvR 517/19 -, Rn. 37, und vom 4. Dezember 2019 - 2 BvR 1832/19 -, Rn. 45). Dies gilt auch, wenn Anhaltspunkte für die Gefahr politischer Verfolgung im [X.] bestehen. Im Rahmen dessen muss das Gericht den auf die Gefahr politischer Verfolgung bezogenen Vortrag des Beschwerdeführers nachvollziehbar und willkürfrei würdigen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 9. März 2016 - 2 BvR 348/16 -, Rn. 13; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. Dezember 2019 - 2 BvR 1832/19 -, Rn. 45).

bb) Das [X.] ist seiner Verpflichtung, die Gefahr des Beschwerdeführers, im [X.] politischer Verfolgung ausgesetzt zu sein, aufzuklären und eigenständig zu prüfen, nicht nachgekommen. Es hat sich mit den konkreten Schilderungen des Beschwerdeführers, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bewusst unter Mitwirkung staatlicher Hoheitsträger inszeniert worden seien, nicht erkennbar auseinandergesetzt. Worauf das Gericht seine Überzeugung stützt, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung nicht der Gefahr einer politischen Verfolgung ausgesetzt sein wird, lässt sich der angegriffenen Entscheidung nicht entnehmen. Auch inwieweit die von den [X.] Behörden nicht weiter ausgeführte Erklärung, dass die Strafverfolgung des Beschwerdeführers nicht politisch motiviert sei, belastbar sein soll, wird in dem angegriffenen Beschluss nicht dargelegt.

b) Bestehen konkrete Anhaltspunkte für systemische oder allgemeine Mängel der Haftbedingungen im ersuchenden Staat, ist das mit dem Auslieferungsersuchen befasste Gericht verpflichtet, genau zu prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die zu überstellende Person im [X.] an ihre Übergabe aufgrund der Bedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, dort einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird (vgl. zu Art. 4 [X.], Art. 3 [X.] und Art. 1 Abs. 1 GG [X.] 156, 182 <201 Rn. 44 ff. und 208 f. Rn. 59 f.>). Bei der vom Gericht vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Haftbedingungen ist hinsichtlich des einem Inhaftierten zur Verfügung stehenden Raums zu unterscheiden, ob dieser unter 3 m², zwischen 3 m² und 4 m² oder über 4 m² liegt (vgl. [X.] 156, 182 <203 f. Rn. 48 f.>). Bei der Berechnung der verfügbaren Fläche in einer Gemeinschaftszelle ist die Fläche der [X.] nicht einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche, wobei es den Gefangenen möglich bleiben muss, sich in der Zelle normal zu bewegen (vgl. [X.] , [X.], Urteil vom 20. Oktober 2016, Nr. 7334/13, § 75 und § 114).

Gemessen hieran genügt die Überprüfung der Haftbedingungen im [X.] nicht den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG. Eine gerichtliche Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Beschwerdeführers zu erheblichen systemischen Defiziten im [X.] Strafvollzug ist nicht erkennbar erfolgt. Zudem hat das [X.] in der angegriffenen Entscheidung eine Gesamtwürdigung der Haftbedingungen versäumt. Trotz der Bedeutung des [X.] ist das bloße Abstellen auf die individuelle Haftraumfläche für die erforderliche Gesamtwürdigung nicht ausreichend. Dabei hat sich das [X.] auch nicht damit auseinandergesetzt, dass die [X.] Behörden zwar für die [X.] einzelne Haftbedingungen geschildert und erklärt haben, den Beschwerdeführer in einem (unter Ausschluss der [X.]) 17 m² großen Haftraum mit drei weiteren Personen unterzubringen und ihm damit mehr als 4 m² individuellen Haftraum zu gewähren. Hinsichtlich der Strafvollzugsanstalt haben die [X.] Behörden demgegenüber mitgeteilt, dass er im Bereich Nr. 11 der Haftanstalt auf einer Gesamtfläche von 252,2 m² mit 79 weiteren Gefangenen untergebracht werden solle. Die Belegung und Größe des Haftraums, in dem er während des Strafvollzugs wahrscheinlich untergebracht werden soll, sowie die weiteren Haftbedingungen wurden nicht mitgeteilt. Allein die mitgeteilte Gesamtfläche aller Räume des [X.] lässt bei einer [X.] von 3,19 m² pro Gefangenem abzüglich der (nicht bekannten) Flächen für den Sanitärbereich, die Flure und Aufenthaltsräume noch nicht erkennen, welcher persönliche Raum dem Beschwerdeführer in einem Gemeinschaftsraum in dieser Strafvollzugsanstalt zur Verfügung stehen soll beziehungsweise ob dieser unter 3 m², zwischen 3 und 4 m² oder über 4 m² liegt.

Auch hinsichtlich der Haftbedingungen hat es das [X.] versäumt, die Belastbarkeit der Zusicherungen der [X.] Behörden zu prüfen. Das nicht weiter begründete Abstellen auf das Vorliegen einer bindend und individuell auf den Beschwerdeführer erklärten Zusicherung der [X.] Behörden ist insoweit nicht ausreichend. Eine eigenständige Gefahrenprognose lässt sich dem angegriffenen Beschluss nicht entnehmen.

Der Beschluss des [X.]s Düsseldorf vom 5. Juli 2021 - III - 4 AR 57/21 - wird, soweit er die Zulässigkeit der Auslieferung betrifft, aufgehoben; die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2, § 90 Abs. 2 Satz 1 [X.]).

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

Die Festsetzung des [X.] für die anwaltliche Tätigkeit stützt sich auf § 37 Abs. 2 Satz 2, § 14 Abs. 1 RVG in Verbindung mit den Grundsätzen über die Festsetzung des [X.] im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. [X.] 79, 365 <366 ff.>).

Meta

2 BvR 1282/21

08.12.2021

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BVerfG, 28. Juli 2021, Az: 2 BvR 1282/21, Einstweilige Anordnung

Art 1 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 S 1 GG, Art 25 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 32 IRG, Art 3 MRK

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 08.12.2021, Az. 2 BvR 1282/21 (REWIS RS 2021, 534)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 534


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 2 BvR 1282/21

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 1282/21, 08.12.2021.

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 1282/21, 28.07.2021.


Az. 4 AR 57/21

Oberlandesgericht Düsseldorf, 4 AR 57/21, 05.07.2021.


Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 BvR 1282/21 (Bundesverfassungsgericht)

Erlass einer einstweiligen Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren: Einstweilige Untersagung des Vollzugs einer Auslieferung an die Russische …


2 BvR 1661/19 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 GG) durch Zulässigerklärung …


2 BvR 408/21 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Auslieferung eines Tschetschenen nach Russland - Verletzung von Grundrechten nicht hinreichend substantiiert dargelegt


2 BvR 828/19 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Auslieferung zur Strafverfolgung verstößt bei Gefahr politischer Verfolgung des Betroffenen im Zielstaat gegen …


2 BvR 517/19 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 GG) durch Zulässigerklärung …


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.