Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 10.10.2011, Az. 10 B 24/11

10. Senat | REWIS RS 2011, 2556

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Gegenstand

Einbeziehung der unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbote im Berufungsverfahren


Gründe

A. [X.]eschwerde des Klägers zu 3

1

Der Kläger zu 3 hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Er beanstandet zu Recht, dass der [X.]hof nur über ein [X.] nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] entschieden, das Vorliegen von [X.] nach § 60 Abs. 2 und 5 [X.] aber offengelassen hat ([X.]eschwerdebegründung S. 1 f.). Die aus Sicht der [X.]eschwerde fehlerhafte [X.]estimmung des Streitgegenstandes fasst die [X.]eschwerde zwar in eine Grundsatzrüge im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Der Sache nach rügt sie damit zugleich jedoch einen Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.

2

Im vorliegenden Verfahren hat das [X.] (heute: [X.]) - [X.] - in seinem [X.]escheid vom 11. Februar 2003 die Anträge der Kläger auf Asyl und Flüchtlingsanerkennung abgelehnt und das Vorliegen von [X.] nach § 53 AuslG 1990 verneint. Das Verwaltungsgericht hat die [X.]eklagte mit Urteil vom 18. Mai 2004 zur Feststellung von [X.] nach § 53 Abs. 6 AuslG 1990 verpflichtet, die Klage aber im Übrigen abgewiesen. Der [X.]hof hat auf die zugelassene [X.]erufung der [X.]eklagten gegen den [X.] zu § 53 Abs. 6 AuslG 1990 das Urteil des [X.] teilweise geändert und die Klage (nunmehr beurteilt nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.]) vollumfänglich abgewiesen. Er hat für alle drei Kläger gemeinsam eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] bei Rückführung in die [X.] verneint, weil sie sich in zumutbarer Weise in anderen Landesteilen - außerhalb von [X.] - niederlassen könnten. Für den Kläger zu 3, der im Verlauf des [X.]erufungsverfahrens das 18. Lebensjahr vollendet hatte und damit in der [X.] wehrpflichtig geworden war, wurde vom [X.]hof zusätzlich die ihm während der Ableistung des Wehrdienstes in den [X.] [X.] drohenden Gefahren am Maßstab einer verfassungskonformen Auslegung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] geprüft, im Ergebnis aber eine danach erforderliche Extremgefahr verneint. An einer Entscheidung der Frage, ob die dem Kläger zu 3 bei Einberufung zum Wehrdienst drohenden Gefahren ein [X.] nach § 60 Abs. 2 und 5 [X.] begründen, hat sich der [X.]hof gehindert gesehen, weil er davon ausging, dass der Streitgegenstand im [X.]erufungsverfahren auf [X.]e nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] beschränkt gewesen sei ([X.] Rn. 29).

3

Der Senat legt die [X.]eschwerde dahin aus, dass sie insoweit nur im Namen des [X.] zu 3, nicht hingegen auch im Namen der Kläger zu 1 und 2 erhoben wurde. Denn [X.]estandteil der von ihr als klärungsbedürftig formulierten Frage ist die Fallgestaltung, dass das [X.]erufungsgericht das Vorliegen eines [X.]s nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] verneint, aber der Meinung ist, dass ein [X.] nach § 60 Abs. 2 und/oder Abs. 5 [X.] vorliege ([X.]eschwerdebegründung S. 2 unten). Eine solche Entscheidung des [X.]erufungsgerichts trägt die [X.]eschwerde nur für den Kläger zu 3 vor ([X.]eschwerdebegründung S. 2 Mitte). Der [X.]eschwerde lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass [X.]e nach § 60 Abs. 2 und/oder Abs. 5 [X.] auch für die Kläger zu 1 und 2 vom [X.]erufungsgericht angenommen worden sein sollen. [X.]ezieht sich die als Grundsatzrüge formulierte [X.]eschwerde nur auf den Kläger zu 3, hat dies auch für ihre Auslegung als Verfahrensrüge zu gelten.

4

Mit Recht rügt die [X.]eschwerde, dass das [X.]erufungsgericht im Fall des [X.] zu 3 keine Entscheidung über unionsrechtlich begründete [X.]e, insbesondere nach § 60 Abs. 2 [X.] getroffen hat. Zwar hat das Verwaltungsgericht in seinem im Jahr 2004 gefällten Urteil die Klage hinsichtlich der vorrangig vor § 53 Abs. 6 AuslG 1990 zu prüfenden [X.] nach § 53 Abs. 1, 2 und 4 AuslG 1990 abgewiesen, ohne dass der Kläger zu 3 dagegen Rechtsmittel eingelegt hat. Dadurch ist der seinerzeit abtrennbare Streitgegenstand, ob einer Abschiebung zwingende [X.] nach § 53 Abs. 1, 2 und 4 AuslG 1990 entgegenstehen, nicht Gegenstand des [X.]erufungsverfahrens geworden. Er war auch nicht wegen der nachträglich eingetretenen Tatsache, dass der Kläger zu 3 wehrdienstfähig geworden ist, in das [X.]erufungsverfahren einzubeziehen. Eine neue Rechtslage hat sich aber mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der [X.] vom 19. August 2007 ([X.], 1970) ergeben. Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 24. Juni 2008 entschieden hat, bilden seitdem die auf Unionsrecht beruhenden [X.]e nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 [X.] zum einen und die nationalen [X.]e nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 [X.] zum anderen jeweils eigenständige Streitgegenstände, wobei die unionsrechtlich begründeten [X.]e vorrangig vor dem nationalen [X.] u.a. nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] zu prüfen sind (vgl. [X.]VerwG 10 [X.] 43.07 - [X.]VerwGE 131, 198 Rn. 13 - 15). Diese neue Rechtslage war gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG der Entscheidung des [X.]erufungsgerichts vom 4. März 2011 zugrunde zu legen. Danach sind mit Inkrafttreten des [X.] von 2007 die auf Unionsrecht beruhenden [X.]e nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 [X.] in dem Verfahren angewachsen. Wie der Senat mit Urteil vom 27. April 2010 ([X.]VerwG 10 [X.] 4.09 - [X.]VerwGE 136, 360 Rn. 16) entschieden hat, kann ein Kläger jedenfalls dann, wenn das [X.] in dem [X.] - wie hier - über sämtliche zielstaatsbezogenen ausländerrechtlichen [X.]e sachlich entschieden hat, die neuen, auf Unionsrecht beruhenden [X.]e in das anhängige gerichtliche Verfahren einbeziehen (bestätigt mit Urteilen vom 29. Juni 2010 - [X.]VerwG 10 [X.] 10.09 - [X.]VerwGE 137, 226 Rn. 6 und vom 8. September 2011 - [X.]VerwG 10 [X.] 14.10 u. a.). Damit wird auch der den [X.] beherrschenden [X.]eschleunigungs- und Konzentrationsmaxime Rechnung getragen, nach der am Ende eines gerichtlichen Verfahrens grundsätzlich geklärt sein soll, ob und welchen (zielstaatsbezogenen) [X.] der Kläger zu diesem Zeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG) genießt. Das [X.]erufungsgericht hat es daher unter Verstoß gegen Verfahrensrecht unterlassen, das Vorbringen des [X.] zu 3 zu den ihm bei Einberufung zum Wehrdienst drohenden Gefahren auch darauf zu prüfen, ob es einen der Tatbestände des angewachsenen unionsrechtlichen [X.]s erfüllt.

5

Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit, soweit er den Kläger zu 3 betrifft, gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das [X.]erufungsgericht zurückzuverweisen.

6

Über die weiteren vom Kläger zu 3 erhobenen Revisionsrügen brauchte nicht mehr entschieden zu werden. Allerdings bemerkt der Senat, dass diese voraussichtlich ohne Erfolg geblieben wären.

[X.]. [X.]eschwerden der Kläger zu 1 und 2

7

Die auf eine grundsätzliche [X.]edeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und das Vorliegen von Verfahrensmängeln (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützten [X.]eschwerden der Kläger zu 1 und 2 sind unzulässig. Sie genügen nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.

8

1. Die [X.]eschwerden sehen die Frage als rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig an, "ob und inwieweit im Rahmen der Prüfung des Vorliegens eines [X.]s nach § 60 Abs. 7 S. 1 [X.] bereits erlittene körperliche Misshandlungen und Übergriffe zu berücksichtigen sind" ([X.]eschwerdebegründung S. 2 oben). Von [X.]edeutung sei die Frage deshalb, weil zumindest die Kläger zu 1 und 3 mehrfach verhaftet und der Kläger zu 1 verhört und geschlagen worden sei. Dies sei unter dem Verdacht der Zusammenarbeit mit tschetschenischen Rebellen geschehen. Daher sei von einer Erfassung der Kläger als verdächtige Personen auszugehen, was bei der Frage zu berücksichtigen sei, ob sich die Kläger in übrigen Teilen der [X.] niederlassen können, insbesondere die notwendige Registrierung erhalten, um der ihnen in [X.] drohenden Gefahr zu entgehen.

9

Die Grundsatzrüge ist unzulässig, weil der erforderliche Klärungsbedarf für die aufgeworfene Frage nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt wird. In der Rechtsprechung des [X.] ist bereits geklärt, dass beim Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990 nicht auf einen abgesenkten Wahrscheinlichkeitsmaßstab abzustellen ist, wenn der Ausländer bereits vor der Einreise ins [X.] Eingriffe in Leib, Leben und Freiheit erlitten hat. Denn der [X.]egriff der "konkreten Gefahr" enthält nicht das sich aus dem besonderen humanitären [X.]harakter des Asylrechts ergebende Element der Zumutbarkeit der Rückkehr (vgl. Urteil vom 17. Oktober 1995 - [X.]VerwG 9 [X.] 9.95 - [X.]VerwGE 99, 324 <330>). Das gilt auch für das [X.] nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] (vgl. [X.]eschlüsse vom 21. Februar 2006 - [X.]VerwG 1 [X.] 107.05 - [X.]uchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 323 Rn. 3 und vom 29. Juni 2009 - [X.]VerwG 10 [X.] 60.08 - [X.]uchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. [X.] Nr. 35 Rn. 7). Die [X.]eweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/[X.] findet gemäß § 60 Abs. 11 [X.] nur auf die unionsrechtlich begründeten [X.]e Anwendung, nicht jedoch auf das [X.] nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.]. Weitergehenden Klärungsbedarf zeigen die [X.]eschwerden nicht auf.

2. Die [X.]eschwerden rügen des Weiteren eine Verletzung des Anspruchs der Kläger zu 1 und 2 auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Diese soll sich daraus ergeben, dass der [X.]hof die sich aus den früheren Verhaftungen und Misshandlungen der Kläger (siehe oben Ziffer 1) ergebende Gefahr des [X.] weiterer Verfolgungsmaßnahmen im Rahmen der Prüfung eines [X.]es nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] unberücksichtigt gelassen habe ([X.]eschwerdebegründung S. 3 Mitte).

Mit ihren Darlegungen zeigen die Kläger zu 1 und 2 die geltend gemachte Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs jedoch nicht auf. Nach ständiger Rechtsprechung des [X.] und des [X.]undesverfassungsgerichts ist grundsätzlich - und so auch hier - davon auszugehen, dass die Gerichte das Vorbringen der [X.]eteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben; die Gerichte brauchen sich dabei nicht mit jedem Vorbringen in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich auseinanderzusetzen. Aus einem Schweigen der Urteilsgründe zu Einzelheiten des Prozessstoffs allein kann noch nicht der Schluss gezogen werden, das Gericht habe diese nicht zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs kann daher nur dann festgestellt werden, wenn es sich aus den besonderen Umständen des Falles deutlich ergibt, dass das Gericht tatsächliches Vorbringen der [X.]eteiligten nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. etwa [X.]eschluss vom 5. Februar 1999 - [X.]VerwG 9 [X.] 797.98 - [X.]uchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 4 unter Hinweis auf [X.]VerfGE 96, 205 <216 f.>). Solche besonderen Umstände zeigt die [X.]eschwerde nicht auf. Vielmehr findet sich im [X.]erufungsurteil die Feststellung, dass persönliche Umstände, die eine erhöhte Gefährdung der Kläger gegenüber anderen aus [X.] stammenden [X.] Staatsangehörigen erkennen lassen, weder vorgetragen noch ersichtlich seien ([X.] S. 9 oben). Das spricht dafür, dass sich der [X.]hof mit besonderen gefahrerhöhenden Umständen in der Person der Kläger zu 1 und 2 befasst, sie im Ergebnis aber verneint hat.

Im Übrigen ergibt sich aus dem Vorbringen der Kläger auch nicht, dass sie "unter dem Verdacht der Zusammenarbeit mit tschetschenischen Rebellen" verhört und verhaftet worden seien, wie die [X.]eschwerde vorträgt. Vielmehr hat der Kläger zu 1 in seiner Anhörung durch den [X.]hof am 20. April 2009 lediglich ausgesagt, er sei nach Kontakten zu tschetschenischen Rebellen gefragt worden, habe das aber verneint. Später sei er aufgefordert worden, den [X.] [X.]eobachtungen über Rebellen mitzuteilen. Die [X.]eschwerden legen nicht dar, wieso das [X.]erufungsgericht auf der Grundlage dieses Vorbringens von einer "Registrierung der Kläger zumindest als verdächtige Personen" hätte ausgehen müssen.

Von einer weiteren [X.]egründung der Entscheidung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

Meta

10 B 24/11

10.10.2011

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 4. März 2011, Az: 11 B 09.30064, Urteil

§ 60 Abs 2 AufenthG 2004, § 60 Abs 3 AufenthG 2004, § 60 Abs 5 AufenthG 2004, § 60 Abs 7 S 1 AufenthG 2004, § 60 Abs 7 S 2 AufenthG 2004

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 10.10.2011, Az. 10 B 24/11 (REWIS RS 2011, 2556)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 2556

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10 ZB 19.1334

11 ZB 17.31423

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